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Die 101 wichtigsten Fragen: Deutsche Literatur

Titel: Die 101 wichtigsten Fragen: Deutsche Literatur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Jahraus
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des (deutschsprachigen) Realismus hat die Form der Rahmennovelle zu einer besonderen Kunstform gemacht. Rahmennovelle bedeutet eigentlich, dass erzählt wird, wie erzählt wird. Eine besonders kunstvolle Rahmenerzählung hat der Schweizer Autor Conrad Ferdinand Meyer (1825–1898) mit seiner Novelle
Die Hochzeit des Mönchs
(1883/84) vorgelegt, indem Rahmen- und Binnenerzählung auf außergewöhnlich komplexe Weise miteinander verbunden werden, ja mehr noch, indem sich Rahmen- und Binnenerzählung wechselseitig thematisieren. Der große Dichter Dante hat am Hofe des Tyrannen Cangrande Asyl gefunden und lebt dort abgeschieden in seiner Kammer. An einem Abend kommt er in eine kleine Hofgesellschaft, wo man sich die Zeit mit Erzählungen vertreibt. Er wird aufgefordert, auch eine Erzählung beizutragen. Dante lässt sich also herab, doch was er dann regelrecht inszeniert, zeigt nicht nur eine Kunstfertigkeit, sondern eine soziale Macht des Erzählens. Dazu verwendet er einen Trick, auf den die anwesenden Zuhörer hereinfallen. Er benennt die Figuren seiner Erzählung genauso wie die Anwesenden. Dadurch macht er versteckte Identifikationsangebote. Das gewinnt vor dem Hintergrund der Themenstellung besondere Brisanz. Denn an diesem Abend geht es um das Thema «plötzlicher Berufswechsel». Dante schlägt eine Geschichte vor, die denselben Titel wie die Novelle Meyers tragen könnte. Er entwickelt sie aus einem Grabspruch: «Hier schlummert der Mönch Astorre neben seiner Gattin Antiope. Beide begrub Ezzelin.» Ezzelin, muss man wissen, war ein Tyrann wie auch jener Herrscher, der Dante Asyl gewährt und der inmitten seiner Zuhörer sitzt, Cangrande. Dante spielt mit dem Feuer, denn an diesem Hof darf man wohl eine «dreiste und ketzerische Äußerung» machen, die «hier kein Ärgernis» erregt, «während ein freies oder nur unvorsichtiges Wort über den Herrscher, seine Person oder seine Politik, verderben konnte». Es geht um einen Vater, der seine Söhne verliert, bis nur noch jener letzte übrig bleibt, der sich entschlossen hatte, ins Kloster zu gehen. Um die Familientradition zu retten, überlistet ihn der Vater und presst ihm das Versprechen ab zu heiraten. Astorre, von seinem Gelübde unfreiwillig befreit, verlobt sich mit Diana, verliebt sich aber in Antiope, die er dann auch heiratet.Diana rächt sich, indem sie Antiope ermordet, worauf Astorre Dianas Bruders ermordet, der seinerseits noch Astorre ermorden kann. Ezzelin, der Tyrann, begräbt die Toten. Nachdem das Gelübde einmal gefallen ist, gibt es für Astorre kein Halten mehr. Erzählt wird also, wie eine gesellschaftliche Ordnung eigentlich aus ökonomischem Interesse heraus (der Familienbesitz braucht Erben) erhalten werden soll, aber gerade deswegen in die Katastrophe treibt.
    Prekär ist diese Situation, weil auf dem Weg in die soziale Katastrophe ein Mann zwischen zwei Frauen geschildert wird. Genau in dieser Situation aber befindet sich auch Cangrande. Dante erzählt ihm also eine Geschichte, in der ihm sein eigenes Verhalten (zumal bei Namensgleichheit der Frauen in Rahmen- und Binnenerzählung) als gesellschaftsschädigend vorgehalten wird. Doch Cangrande schreitet nicht ein, im Gegenteil. Es passiert etwas völlig Eigenartiges. An einer markanten Position seiner Erzählung überlässt ihm Cangrande seinen Platz, nicht nur zwischen den Frauen, sondern auch den Platz des Herrschers. «Der Fürst erhob sich […], trat auf den Verbannten zu [= Dante], nahm ihn an der Hand und führte ihn an seinen eigenen Platz, nahe dem Feuer. ‹Er gebührt dir›, sagte er, und Dante widersprach nicht.» Der Erzähler nimmt den Platz des Souveräns und des Tyrannen ein, was man natürlich wiederum poetologisch deuten kann und muss. Der Erzähler ist der wahre Herrscher. Diese Szene ist eine Allegorie der Macht, der Allmacht des Erzählers und zugleich eine Selbstbehauptung der Kunst gegenüber der Politik.
    Gleichzeitig entsteht aber auch ein anderes Beziehungsgeflecht. Wenn man sich die Binnengeschichte vergegenwärtigt, dann fällt einem die hohe Anzahl extrem unwahrscheinlicher Begebenheiten auf: Ein Schiff sinkt mit einer Hochzeitsgesellschaft, ein Vater verliert zwei Söhne, ein Ring rollt vor die Füße eines Mädchens. Tatsächlich ist für all diese Ereignisse die mehr oder weniger beabsichtigte oder zufällige Präsenz von Ezzelin verantwortlich. Aber man darf nicht vergessen, dass Dante diese Geschichte erzählt. Was also in der Binnenerzählung als

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