Die 101 wichtigsten Fragen: Deutsche Literatur
Kafka (1883–1924) hat seine Erzählung
Das Urteil
«in der Nacht vom 22 zum 23 [September 1912] von 10 Uhr abends bis 6 Uhr früh in einem Zug geschrieben», wie er es gleich danach am Folgetag seinem Tagebuch anvertraut. Kafka gilt als schwieriger Autor, seine Texte sind geheimnisvoll und schwer zu interpretieren. Auch für
Das Urteil
gilt, dass es sich um eine dunkle Geschichte handelt. Umso erstaunlicher mag es anmuten, dass wir über die Entstehung dieser Geschichte so genau informiert sind. Aber gerade das kann uns auch einen Schlüssel zu dieser Geschichte liefern.
Die Geschichte erzählt von Georg Bendemann, der heiraten will und gerade überlegt, wie er diese Nachricht seinem Freund in Russland mitteilen kann, ohne ihn vor den Kopf zu stoßen, da er offensichtlich nicht so gute Perspektiven hat. Um sich zu beratschlagen, geht er zu seinem Vater, der in einem hinteren Zimmer der Wohnung lebt. Der Vater fragt, für den Leser ganz unverständlich, ob es diesen Freund überhaupt gäbe, wird plötzlich aber aggressiv, wächst über sich hinaus, beleidigt die Braut und begehrt plötzlich auf, indem er behauptet, er stünde in Wirklichkeit mit dem Freund im Bunde. Am Ende verurteilt er seinen Sohn zum Tode, und dieser akzeptiert dies auch noch, geht zum Fluss und ertränkt sich. Darin wird ein Prinzipdeutlich, das dem Leser immer wieder in Kafkas Texten begegnet: Den Figuren widerfahren phantastische Begebenheiten, ohne dass sie sie als solche wahrnehmen. Sie nehmen sie vielmehr als Normalfall in ihrer Lebenswirklichkeit wahr und versuchen immer vergeblich, sich damit auseinanderzusetzen. Das macht Kafkas Texte so geheimnisvoll, deswegen entziehen sie sich einer Interpretation.
Dass Kafka ein schwieriger Mensch war, das kann man nicht leugnen, aber man darf nicht dem Missverständnis aufsitzen, von den Interpretationsschwierigkeiten ausgehend bestimmte Dichtermythen zu erzeugen. Kafka war Beamter, und in seinem Dienst war er anerkannt, geschätzt und erfolgreich. Aber der Beruf kostete Zeit. Die Zeit zum Schreiben musste sich Kafka mühevoll freihalten. So schrieb er nach Dienstschluss, so auch am Abend des 22. September 1912. Aber Kafka war kein Hobbyschriftsteller. Im Gegenteil, das Schreiben war ihm das Wichtigste im Leben. Für Kafka war diese Erzählung von großer Bedeutung, sie bedeutete für ihn den Durchbruch zum Schreiben. Aber noch wichtiger war der Schreibprozess selbst. Im Tagebuch hält er programmatisch für sich selbst fest: «Nur so kann geschrieben werden». Und wie? Er fährt fort: «nur in einem Zusammenhange, mit solcher vollständigen Öffnung des Leibes und der Seele».
Mit seiner Verlobten und Briefpartnerin Felice Bauer spielt er noch einige Interpretationsspiele. Er fordert sie auf, Bezüge zwischen ihnen beiden einerseits und den Figuren andererseits aufgrund von Buchstabenkonstellationen herzustellen, aber all dies steht unter einer eher abweisenden Frage: «Findest Du im ‹Urteil› irgendeinen Sinn, ich meine irgendeinen geraden, zusammenhängenden, verfolgbaren Sinn?» Kafka lockt uns auf die Fährte einer autobiographischen Lesart, um sie im selben Moment auch wieder zu desavouieren. So macht es der Text selbst, denn er enthält eine Reihe von Elementen, die sich auch in Kafkas Biographie wiederfinden lassen, zum Beispiel das prekäre Verhältnis zwischen Vater und Sohn. Die Verlobung als Akt einer Emanzipation des Sohnes gegenüber dem Vater lässt sich biographisch nachverfolgen, und die geheimnisvolle Figur des Freundes hat etwas mit dem Verhältnis von Vater und Sohn zu tun, worauf wiederum Kafka selbst hinweist. Aber wie auch immer man nun diesen Text interpretieren will, so darf man nicht übersehen, dass dieser Text ebenso von sich selbst, von seiner eigenen Entstehung, von den Voraussetzungen seines eigenen Schreibprozesseshandelt. Denn es geht auch um die Möglichkeit einer schreibenden Selbstbestimmung des Sohnes angesichts familiärer und erotischer Zumutungen, schließlich beginnt die Erzählung mit einer (Brief-)Schreibszene.
82. Was bedeuten Prozess und Schloss bei Kafka? Ein solcher Wurf wie
Das Urteil
ist Kafka nie mehr gelungen. Schon bei der nächsten größeren Geschichte war es ihm nicht mehr möglich, seine Art zu schreiben umzusetzen. Die Geschichte um die
Verwandlung
von Gregor Samsa zu einem Ungeziefer wuchs sich aus, die Geschichte konnte nicht in einem Zug zu Ende geschrieben werden. Romane konnte man erst recht nicht in einem Zuge niederschreiben, und
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