Die 101 wichtigsten Fragen: Deutsche Literatur
Verhältnisse umgekehrt: Nun sind es die Männer, die Lulu in immer neuen Stationen Gewalt antun. Ihre Unterstützer, vor allem die Gräfin Geschwitz, können sie nicht retten. Das Drama endet mit der Verkehrung einer Freier-Situation. Lulu, die sich prostituiert, gibt Jack the Ripper Geld, damit er mit ihr schläft, doch er ersticht sie.
Die Darstellung dieser
femme fatale
berührt unmittelbar die Fragen nach der Möglichkeit von Kunst. Bürgerliche Kunst ebenso wie bürgerliches Verhalten unterliegen einer starken Disziplinierung. Kunst hingegen, so Wedekind, müsse gerade das freilegen, was diesem Prozess vorausgeht. Dabei zeigt sich für ihn, dass vor allem die Männer nicht nur Frauen disziplinieren, sondern selbst einer rigorosen Disziplin, zum Beispiel in moralischen Fragen, unterliegen. Das wird vor allem an der Liebe deutlich: Liebe ist für Männer etwas, dasman
macht
. Liebe ist für Lulu dasjenige, was sie
ist
. Es gibt keine Differenz zwischen Leben und Liebe; Liebe ist für Lulu ein existenzieller Ausdruck ihrer selbst, Liebe ist für sie jenes Residuum vor der Gesellschaft, das sich eben nicht vergesellschaften lässt. Und Analoges gilt für die Kunst: «In jeder Kunst war Selbstverständlichkeit!», heißt es im Prolog zum
Erdgeist
.
80. Welche literaturgeschichtliche Bedeutung haben Lyrik-Anthologien? Kurt Pinthus war ein umtriebiger Journalist, Literaturwissenschaftler, Publizist, Literaturvermittler und Dramaturg. 1886 geboren, nahm er an den revolutionären Umtrieben 1919/20 als Soldatenrat teil, musste später, 1937, ins Exil gehen, lehrte dort unter anderem Theatergeschichte und kehrte 1967 nach Deutschland zurück, wo er 1975 verstarb. Man würde ihn heute vielleicht nicht mehr kennen, wenn er sich nicht einen bedeutenden Platz in der Literaturgeschichte erobert hätte – nicht so sehr durch die eigene schriftstellerische Leistung, sondern durch die Herausgabe einer Lyrik-Anthologie. Im Jahr 1919 gab er eine Sammlung expressionistischer Gedichte unter dem Titel
Menschheitsdämmerung
heraus, die 1920 in einer Neuauflage bei Rowohlt erschien. Bei Rowohlt ist das Buch bis heute zu haben, ein echter Longseller. Doch bereits im Erscheinungsjahr erlebte es drei Auflagen. Von den Nazis wurde es allerdings verboten und verbrannt.
Die literaturgeschichtliche Bedeutung dieser Sammlung drückt sie auch heute noch mit ihrem Untertitel aus:
Ein Dokument des Expressionismus
. Ganz unbestritten – in keiner anderen Epoche der Lyrik gibt es eine Sammlung, die gleichzeitig einen so hohen Grad an Repräsentation für das gesamte lyrische Schaffen der Epoche beanspruchen kann. Der Band versammelt ca. 250 Gedichte von «etwa zwei Dutzend Dichter[n]», genau gesagt: 23 Autoren (von denen sechs die Veröffentlichung nicht mehr erlebten, weil sie im Ersten Weltkrieg umgekommen waren). Der Band ist in vier Kapitel gegliedert:
Sturz und Schrei
,
Erweckung des Herzens
,
Aufruhr und Empörung
und
Liebe den Menschen
. Es geht dabei um ein neues, literarisch und lyrisch entworfenes und gefeiertes Menschenbild, dessen Abgesang (
Menschheitsdämmerung
) sich gleichermaßen schon vorbereitet und abzeichnet. Am meisten finden sich die Worte, worauf Pinthus in seinem Vorwort selbst hinweist: «Mensch, Welt, Bruder, Gott». Und als Grund gibt er an: «Weil der Mensch so ganz und gar Ausgangspunkt,Mittelpunkt, Zielpunkt dieser Dichtung ist». Grundlegend ist ein Menschenbild, das durch und durch modern ist, das geprägt ist durch die Erfahrungen moderner Lebensumwelten wie insbesondere die Großstadt, die Technik, den Verkehr oder auch den technifizierten Krieg. Seine Wahrnehmung verschafft dem Menschen nicht unbedingt den Zugang zur Welt, sondern dokumentiert auch den verhinderten Zugang, die Fragmentierung, Isolation, Vereinzelung, Orientierungslosigkeit in einer Welt, die – modern gesprochen – für den Menschen hyperkomplex geworden ist. Doch selbst damit kann die Lyrik noch souverän und geradezu witzig umgehen, wie es das erste und zudem berühmt gewordene Gedicht der Anthologie von dem später von den Nazis ermordeten Autor Jakob van Hoddis (1887–1942) –
Weltende
– beweist, das mit dem Vers beginnt: «Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut».
81. Welches weltliterarische Werk der deutschen Literatur wurde in einem Zuge und in einer Nacht geschrieben? Schreiben ist ein solitärer Akt. Ein Autor jedoch hat uns Einblick gewährt, wie er eine der weltberühmtesten Erzählungen niedergeschrieben hat. Franz
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