Die 101 wichtigsten Fragen: Deutsche Literatur
Truppen vernichtet wird. Drei Sprünge hat also Wang-lun getan: aus der Gewalt in die Passivität, dann zurück zu seiner Ausgangsposition und zuletzt noch einmal ins Wu-wei und damit in den Untergang gegenüber der politischen Macht.
Der Roman hat einen historischen Kern, diesen Aufstand hat es tatsächlich gegeben. Dabei vermengen sich in der historischen Realität genauso wie im Roman politische und religiöse Beweggründe. Aber bedeutsam ist der Roman auch deswegen, weil er zum ersten Mal in einer großen Form, der des Romans, eine neue Erzählweise umsetzt, die man als expressionistisches Erzählen charakterisieren kann. Dazu gehören nicht nur die Massenszenen in diesem Roman, sondern vor allem auch seine Fähigkeit, einen hochkomplexen Wahrnehmungsraum zu gestalten, in dem das Triebhafte, Grelle, Krasse, Inkommensurable zum Ausdruck kommen kann. Es ist ein Roman, der expressionistisches Erzählen, chinesischen Exotismus, politische, soziale und religiöse Zeitkritik und eine überbordende literarische Phantasie miteinander korreliert, kurz: ein Meisterstück, das wiederentdeckt gehört.
Weimarer Republik: Neue Sachlichkeit und Exil
85. Wie dient der Erste Weltkrieg als Fluchtpunkt für den Roman? Thomas Mann beginnt die Idee zu seinem Roman
Der Zauberberg
schon 1912 zu entwickeln. Der Roman wird 1924 veröffentlicht. Robert Musil beginnt mit seinem Jahrhundertroman
Der Mann ohne Eigenschaften
1921. Der erste Band (der drei Bücher enthält) erscheint 1930, der erste Teil des zweiten Bandes wird 1932 publiziert. Zu Lebzeiten von Musil wird kein weiterer Band veröffentlicht, doch er arbeitet an diesem Roman weiter bis zu seinem Tod 1942.
Thomas Mann beginnt seinen Roman noch vor dem Krieg, und die Kriegserfahrung fließt in den Roman ein – und zwar auf eine ganz und gar entscheidende Art und Weise. Der Roman erzählt die Geschichte von Hans Castorp. Dieser junge Mann, der Schiffsingenieur werden will, möchte nur für drei Wochen seinen Cousin Joachim Ziemßen besuchen, der sich in der Schweiz, in Davos, zur Kur aufhält. Aus diesen drei Wochen werden schließlich sieben Jahre. Er erlebt dort oben auf dem Zauberberg Krankheit, Erotik und Tod – und damit jene Bereiche, die den modernen Roman um 1900 ausmachen (siehe Frage 86). Und er erlebt in all den Diskussionen, die vor allem die beiden Intellektuellen, der irrationalistisch orientierte Naphta und der aufklärerische Settembrini, als Wortgefechte, schließlich sogar als echtes Duell austragen, auch die entgegengesetzten geistigen Strömungen der Zeit. Der Roman spielt in den Jahren von 1907 bis 1914 in der neutralen Schweiz. Aber auch hier ist eine Entwicklung spürbar, die zum Krieg hinführt. Es ist vor allem Mynheer Peeperkorn, der in einer grandiosen Vision den Krieg vorwegnimmt, was mit jener anderen grandiosen Vision, die Hans Castorp im Schnee träumt, korrespondiert. Hier sieht Hans Castorp eine Kultur bacchantisch in Gewalt und Orgie untergehen. Der Roman endet, als Hans Castorp schließlich nicht mehr länger auf dem Zauberberg bleiben kann. Aber das ist genau der Zeitpunkt, zu dem der Krieg – gemeint ist natürlich der Erste Weltkrieg – heraufdämmert. Der Roman endet mit dem Hinweis auf das ungeklärte Schicksal seines Helden in diesem «Weltfest des Todes».
Robert Musil hat sich für seinen Roman
Der Mann ohne Eigenschaften
eine grandiose Konstellation ausgedacht, die zumindest den erstenTeil trägt. In Wien überlegt ein illustrer Kreis, dem auch die Titelfigur Ulrich angehört, wie man das 70-jährige Thronjubiläum von Kaiser Franz Josef im Jahr 1918 begehen könnte. Die Planungen und Überlegungen laufen daher unter dem Namen Parallelaktion (parallel zum gleichzeitigen Thronjubiläum des deutschen Kaisers). Damit hat Musil eine äußere Konstellation entworfen, mit dem es ihm literarisch gelingt, die entscheidenden Fragen der Moderne im Medium der Literatur zu stellen, wie zum Beispiel, warum eben solche eine Gesellschaft umfassenden Ideen in der Moderne nicht mehr möglich sind. Genau in dem Jahr, in dem die Parallelaktion die Monarchie noch einmal in ihrer Gesamtheit zum Ausdruck bringen soll, hat sie der Weltkrieg tatsächlich aus der Geschichte hinweggefegt. Die Figuren steuern auf eine Apokalypse zu, die ihnen selbst nicht bewusst ist.
Bei beiden Romanen, die in der Vorkriegszeit spielen, in der die Figuren noch nichts vom Krieg wissen können, kann man jedoch die Frage stellen, wie der Krieg präsent ist, bevor er
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