Die 101 wichtigsten Fragen: Deutsche Literatur
Kafka hat sich intensiv mit der Frage auseinandergesetzt, wie denn ein solcher Schreibprozess am besten zu gestalten sei. Bei dem Roman, den er um 1914 zu schreiben beginnt,
Der Proceß
, wendet er einen Trick an, um sich selbst zu überlisten. Damit der Roman kein Fragment mit offenem Ende bleibt, schreibt er dieses Ende schon relativ früh. Es ist die brutale Hinrichtung des Josef K. als Strafe für ein Verbrechen, das er niemals explizit genannt bekommt. Damit soll sich ein Spannungsbogen von dem ersten berühmten Satz des Romans bis zu seinem Ende ziehen lassen. Am Anfang heißt es im Manuskript: «Jemand musste Josef K. verläumdet haben, denn ohne dass [sic!] er etwas Böses getan hätte, war er eines Morgens gefangen.» Kafka hat diesen Anfang später korrigiert: Die Worte «war» und «gefangen» wurden durchgestrichen und ersetzt, so dass der Nebensatz endgültig lautete: «wurde er eines morgens verhaftet». Damit unterstreicht Kafka den juristischen Kontext. Diese Verhaftung scheint aus dem Nichts zu kommen, aber Josef K. akzeptiert sie sofort. Er macht sich auf den Weg, um seinen Prozess zu betreiben, er sucht Hilfe bei Advokaten, er besucht einen Maler in seinem Dachatelier, er besucht einen Kaplan im Dom, der ihm die berühmte
Türhüterlegende
erzählt, vor allem aber sucht er Hilfe bei den Frauen, doch das Gericht, das seinen Prozess führt, bleibt eine anonyme, undurchdringliche Macht. Kafkas Trick funktioniert nicht, auch wenn wir dies bei oberflächlicher Lektüre nicht unbedingt merken. Der Roman ist Fragment geblieben. Zwar hat Max Brod dem Roman eine scheinbar endgültige Form gegeben, doch die Reihenfolge der Kapitel, die alle nur in einzelnen Handschriftkonvoluten erhalten sind, ist nie definitiv festgelegt worden. In der historischen kritischen Ausgabe,die Roland Reuß und Peter Staengle besorgt haben, wird der
Proceß
als Paket (Schuber) veröffentlicht, in dem sich die Kapitel, so wie sie Kafka zu Konvoluten zusammengefasst hat, als einzelne Hefte finden.
1922, zwei Jahre vor seinem Tod, unternimmt es Kafka noch einmal, einen Roman zu schreiben:
Das Schloß
. Hier erzählt er strikt chronologisch, vom Anfang der Erzählung an, aber er muss im dritten Kapitel, bevor es zur ersten erotischen Begegnung des Helden kommt, eine entscheidende Korrektur vornehmen. Er hat bis dahin in der Ich-Form erzählt, er wechselt dann zur Er-Form und ersetzt «Ich» durch «K.». Ein angeblicher Landvermesser kommt in einer Winternacht in ein Dorf, über dem ein Schloss thront, und behauptet, Landvermesser zu sein. Der Roman erzählt von den Bemühungen des Landvermessers K., vom Schloss akzeptiert und damit von den Dorfbewohnern in ihre Gemeinschaft integriert zu werden. Auch hier ist K. unermüdlich auf dem Weg, Unterstützung und Anerkennung zu finden. Und es scheint so, dass genauso, wie K. dem Schloss nicht nahe kommt, trotz all seiner Anstrengungen, auch der Leser dem Sinn des
Schloß
-Romans nicht näherkommt. Max Brod hat daher in seinem Nachwort vom
Schloß
-Roman dem Leser einen Interpretationsvorschlag gemacht: «Somit wären im ‹Prozeß› und im ‹Schloß› die beiden Erscheinungsformen der Gottheit (im Sinne der Kabbala) – Gericht und Gnade – dargestellt.»
83. Was haben Professor Unrat und Gustav von Aschenbach gemeinsam? Über die beiden Brüder ist viel geschrieben worden, und ihr Verhältnis zueinander liefert reichhaltiges Material. Der eine, ältere, eher proletarisch ausgerichtet, der jüngere eher bürgerlich, der eine eher mittellos, der andere nach einer vorteilhaften Heirat gut situiert, der eine links, der andere eher bürgerlich konservativ, der eine verurteilt den Ersten Weltkrieg, der andere goutiert ihn, bevor er seine Meinung ändert, der eine eher Sozialist, der andere kokettiert bestenfalls mit dem Sozialismus. Beide werden zu Gegnern des Nationalsozialismus, der eine dezidiert, der andere muss sich erst zu einer solchen Positionierung durchringen, beide gehen über Umwege ins Exil in den USA. Die Rede ist von Heinrich (1871–1950) und Thomas Mann (1875–1955). Der Historiker und Publizist Joachim C. Fest nennt sie in seinem Buch mit demselben Titel
Die unwissenden Magier
, und der Literaturwissenschaftler Helmut Koopmannnennt sie im Untertitel seiner Doppelbiografie
Die ungleichen Brüder
. Die Frage, wie sich Kunst und Politik zueinander verhielten oder zu verhalten hätten, beantworteten die Brüder auf gänzlich verschiedene und bisweilen entgegengesetzte
Weitere Kostenlose Bücher