Die 101 wichtigsten Fragen: Deutsche Literatur
Weise.
In ganz unterschiedlichen Phasen ihres Lebens haben die beiden unabhängig voneinander und auch nicht absolut gleichzeitig, aber doch epochemachende Werke geschrieben, die sich wechselseitig zuordnen lassen. 1905 veröffentlicht Heinrich Mann den Roman
Professor Unrat oder Das Ende eines Tyrannen
. Und 1912 erscheint Thomas Manns Novelle
Der Tod in Venedig
. In beiden Texten steht ein Intellektueller im Mittelpunkt, ein Künstler oder Lehrer, der in der Mitte seines Lebens, auf dem Höhepunkt seiner gesellschaftlichen Reputation und seiner intellektuellen bzw. künstlerischen Entfaltung, einer erotischen Anfechtung erliegt. Heinrich Mann erzählt die Geschichte des Gymnasiallehrers Raat, der von seinen Schülern als Unrat verunglimpft wird. Das ist eine Reaktion auf seine totalitäre Art, den Unterricht zu führen, wodurch die Schule zum Paradigma der restriktiven wilhelminischen Gesellschaft wird, die Heinrich Mann auch in seinem anderen berühmten Roman,
Der Untertan
(1914), entlarvt hat. Raat verfällt der
femme fatale
Lola völlig. Er verlässt nach und nach seine bürgerliche Sphäre und wird Mitglied in der
demi-monde.
Schließlich heiraten die beiden und machen sich nun selbst daran, andere ehrbare Bürger der Stadt zu verführen. Ihr Ziel ist, wie es im Roman heißt, die «Entsittlichung der Stadt». Diejenigen, die er einst so drangsaliert hatte, seine Schüler, erweisen sich nunmehr als die Bürger, die bürgerlich reagieren.
Gustav Aschenbach oder von Aschenbach, wie seit seinem 50. Lebensjahr sein Name amtlich lautet, worauf der Erzähler gleich im ersten Satz der Novelle
Der Tod in Venedig
hinweist, ist ein Schriftsteller und ebenso ein Lehrer der Jugend. Aschenbach entschließt sich in einem Zustand der körperlichen, geistigen und künstlerischen Erschöpfung, nach Venedig zu reisen. Auf der Reise begegnet er mehreren Todesboten, bevor er sich in Venedig in den schönen Knaben Tadzio verliebt, dem er fortan auf Schritt und Tritt nachfolgt, ohne dass es zum Kontakt kommt. Als die Cholera in Venedig ausbricht, lässt er den Moment der Abreise vorübergehen, um in Tadzios Nähe zu bleiben. Gustav von Aschenbach stirbt in Venedig.
Beide Autoren schildern Repräsentanten des alten Regimes, der wilhelminischen Gesellschaft, und zeigen dabei auf, wie deren sozialeswie ästhetisches Selbstverständnis so brüchig geworden ist, dass sie selbst anfechtbar und verführbar werden. Ihr soziales wie ästhetisches Regime steht auf tönernen Füßen, und die Veränderung der historischen Koordinaten wird sie hinwegfegen.
84. Hat Döblin eine Chinoiserie geschrieben? Eine Chinoiserie ist ein Kunstgegenstand, der die chinesische Kultur nachahmt. Eine Chinoserie kann aber auch ein Text sein, der die chinesische Kultur nutzt, um seine Geschichte zu erzählen. Alfred Döblins (1878–1957) Roman
Die drei Sprünge des Wang-lun
, an dem er von 1912 bis 1913 geschrieben hat und der 1915 veröffentlicht wurde, mag als solche Chinoiserie gelten. Er trägt die Gattungsbezeichnung «Chinesischer Roman». Der Herausgeber, Walter Muschg (1898–1965), seines Zeichens selbst ein sehr bekannter Literaturwissenschaftler, nennt im Nachwort zu seiner Ausgabe den Roman «eine halb romantische, großartige Chinoiserie». Aber ist dieses Urteil gerechtfertigt?
Döblins bekanntester Roman ist sicherlich
Berlin Alexanderplatz
, weil in diesem Roman am deutlichsten und markantesten eine neuartige Form des Erzählens zum Ausdruck kommt, in der sich Erzählweise und die erzählte Großstadt auf beeindruckende Weise ergänzen.
Berlin Alexanderplatz
, 1929 erschienen, ist das Paradigma des modernen Romans. Dass dieser Roman eine solche Bedeutung zugesprochen bekommen hat, ist leicht einsehbar; warum
Die drei Sprünge des Wang-lun
in den Hintergrund getreten sind, allerdings nicht. Dieser Roman erzählt die Geschichte des Diebs und Räubers Wang-lun, der einen Bekehrungsprozess durchmacht und eine Sekte gründet, deren Lehre, das Wu-wei, darin besteht, nicht zu handeln, passiv zu sein und die eigentliche Macht im Schwachsein zu erkennen. Aus dieser Sekte wird eine Volksbewegung, und aus der Volksbewegung wird eine Revolution, die niedergeschlagen wird. Wang-lun widerruft seine Lehre, kämpft gegen den Kaiser, macht es sich zum Ziel, die Mandschu-Kaiser abzulösen. Die kaiserlich militärische Übermacht vernichtet die Aufständischen, Wang-lun widerruft ein weiteres Mal, kehrt zur Lehre des Wu-wei zurück, bevor er von den kaiserlichen
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