Die 101 wichtigsten Fragen: Deutsche Literatur
und damit auch seine Familie interniert, 1942 wurden seine Eltern deportiert, sein Vater starb an Typhus, seine Mutter wurde ermordet. 1945 kam Celan nach Bukarest, von dort floh er nach Wien. Schon 1948 zog er nach Paris, wo er heiratete, arbeitete und schrieb und am 20. April 1970 Selbstmord beging. Sein berühmtestes Gedicht ist vielleicht auch das berühmteste Gedicht über den Holocaust:
Todesfuge
. Er hat das Gedicht 1944 geschrieben,es wurde zuerst in Rumänien in rumänischer Übersetzung unter dem Titel
Todestango
veröffentlicht, die deutsche Veröffentlichung erfolgte 1948 in Celans Gedichtband
Der Sand in den Urnen
.
Dieses Gedicht wurde später berühmt und geradezu beliebt – und Celan ging auf Distanz. Was Celan störte, war der Umstand, dass das Gedicht mit seinem größeren Bekanntheitsgrad immer eingängiger wurde. Tatsächlich war es leicht, die Chiffren als ästhetische Formeln zu verstehen, die den Holocaust nicht so sehr zum Ausdruck bringen als ihn vielmehr verschleiern oder gar ästhetisieren. Das beginnt schon mit dem Bild am Eingang des Gedichts, wo es heißt:
Schwarze Milch der Frühe wir trinken sie abends
wir trinken sie mittags und morgens wir trinken sie nachts
wir trinken und trinken
Eine solche Chiffrensprache wurde später typisch für Celan, auch wenn er seine Ausdrucksweisen wesentlich verfeinerte und veränderte. Daraus resultierte für seine Leser der Eindruck des Dunklen, Opaken und Geheimnisvollen. Gegen einen solchen Lektüreeindruck hat sich Celan stets gewehrt, der seine Gedichte immer als ‹realistisch› ansah. Er wehrte sich vor allem gegen eine Lektüre, die vergaß, auf das zu blicken, was hinter und in den Chiffren zum Vorschein kommt. Auch in der Todesfuge gibt es Sätze von einem erschreckenden Realismus, wenn es beispielsweise heißt: «wir schaufeln ein Grab in den Lüften da liegt man nicht eng», was natürlich den Gedanken an die Einpferchung und die Vergasung von Menschen und die Verbrennung der Leichen evoziert. Dass dies auch Teil einer Kultur ist, die Goethes
Faust
hervorgebracht hat, wird gleichermaßen angesprochen, wenn es zum Ende des Gedichts heißt: «dein goldenes Haar Margarete/dein aschenes Haar Sulamith». Celan setzt sich mit einer Spaltung auseinander, die sein Leben schmerzlich bestimmen wird. Die Sprache seiner Gedichte ist seine Muttersprache, die Sprache seiner geliebten Mutter, aber zugleich auch die Sprache der Mörder seiner Mutter, der Täter im Holocaust. Vor diesem Hintergrund ist auch die Eingangsfrage differenzierter zu beantworten. Ästhetisierung und Erinnerung sind keine Gegensätze, und Ästhetisierung bedeutet nicht notwendigerweise Verharmlosung, sondern ist vielleicht auch das Medium, um das Unbegreifbare doch begreifen zu können.
92. Warum sterben Deutsche in Italien? Die Stunde Null, die Idee vom völligen Neuanfang Nachkriegsdeutschlands nach der Nazidikatur, ist in jeder Hinsicht, vor allem in politischer und kultureller, ein historischer Mythos, der auch für die Literatur gilt. Einen Neuanfang einer deutschen Literatur besonders in der Bundesrepublik gab es vor allem dort, wo dieser Mythos der Stunde Null selbst explizit oder implizit Thema wurde. Die neue Literatur der Bundesrepublik Deutschland hatte, nachdem man verschiedenste Ansätze, zum Beispiel an religiöse Sinnstiftungsmodelle oder an Schreibweisen aus der Vorkriegstradition anzuknüpfen, hinter sich gelassen hatte, drei wichtige Themen: die Verstrickung der Deutschen in den Nationalsozialismus und seine Nachwirkungen bis in die bundesrepublikanische Gesellschaft hinein, den Holocaust (siehe Frage 91) und schließlich die Verfasstheit der neuen westlichen, kapitalistischen Gesellschaft der Bundesrepublik. Bisweilen wurden diese Themen auch miteinander verknüpft, so zum Beispiel in Wolfgang Koeppens (1906–1996) Roman
Tod in Rom
(1954). Dieser Roman erzählt die Lebensgeschichten von Figuren, die in den Nationalsozialismus verstrickt waren, von Tätern und Opfern. In Rom treffen zwei Familien aufeinander, die Pfaffraths bzw. die Judejahns auf der einen Seite und die Kürenbergs auf der anderen. Siegfried Pfafffrath will in Rom seine Symphonie aufführen, Kürenberg soll sie dirigieren. Der Vater von Siegfried billigte die Enteignung und Ermordung von Kürenbergs Schwiegervater; sein Schwager ist der ehemalige SS-General und verurteilte Kriegsverbrecher Gottlieb Judejahn, der nicht gefasst wurde und sich nun als Waffenhändler für einen arabischen
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