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Die 101 wichtigsten Fragen: Deutsche Literatur

Titel: Die 101 wichtigsten Fragen: Deutsche Literatur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Jahraus
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zusammenfassen, was als Quintessenz der gespielten Szenen zu gelten hatte. In der Inszenierung ließen sich noch viele weitere Möglichkeiten denken, um die Handlung durch solche Verfremdungseffekte oder V-Effekte zu unterbrechen.
    Zu den markantesten Stücken des epischen Theaters gehört sicherlich das Drama
Mutter Courage und ihre Kinder
, das Brecht 1938/39 im schwedischen Exil geschrieben hat, das 1941 in Zürich uraufgeführt wurde und eine zweite, sehr erfolgreiche Neuinszenierung in Ost-Berlin in der sowjetischen Besatzungszone durch das Berliner Ensemble am Deutschen Theater am 11. Januar 1949 erfuhr. Das Drama spielt im 30-jährigen Krieg zwischen 1624 und 1636 und ist in zwölf Bilder aufgeteilt. Das Drama hat also keine durchgängige Handlung mehr und zeigt lediglich Stationen seiner Titelheldin. Mutter Courage wird die Marketenderin Anna Fierling genannt, weil sie anscheinend sehr mutig mitten im Kriegsgeschehen ihrem Geschäft nachgeht. Aber in Wirklichkeit stellt sie nur ihre Geschäftsinteressen höher als ihr eigenes Wohl oder vor allemdas ihrer drei Kinder, die sie während des Krieges von drei verschiedenen Männern empfangen hat: Eilif, ihr ältester Sohn, dann Schweizerkas, und das jüngste Kind ist die stumme Kattrin, die ihre Stimme verloren hat, als sie als Kind von Soldaten überfallen und gefoltert wurde. Das Drama erzählt die Geschichte, wie die Mutter Courage ihre drei Kinder verliert, weil sie das Geschäft immer wichtiger als ihre Kinder nimmt.
    Die Lehren des Stücks können deutlich herauspräpariert werden. Kapitalismus und Krieg gehen eine unheilvolle Allianz ein. Weil die Mutter Courage nichts über diese Zusammenhänge lernt, schafft sie für die Zuschauer die Möglichkeit, dass diese sie durchschauen und begreifen. Doch sosehr dieses Stück auch als Musterfall des epischen Theaters gilt, so gibt es in seiner Anlage doch ein Moment, das im Widerspruch zum Konzept des epischen Theaters steht. Aber weit entfernt, dass dieser Widerspruch dem Drama dadurch einen Abbruch tue, scheint dieser vielmehr zum Erfolg dieses Dramas bis heute beizutragen. Die Mutter Courage wird gerade in dieser Zerrissenheit zwischen Mutter- und Geschäftspflichten zu einer Identifikationsfigur, deren Unglück und Leid den Zuschauer dazu bringt, sich in die Geschichte einzufühlen. So könnte man fragen, ob nicht die Mutter als Typus so viel Affektpotenzial mit sich bringt und beim Zuschauer so viel Empathie auslöst, dass dadurch der Verfremdungseffekt konterkariert wird.

Nachkriegszeit und Gegenwart

91. Ästhetisiert Celans
Todesfuge
den Holocaust? Der Holocaust wird zu einem fundamentalen Thema nicht nur der deutschsprachigen, sondern der Weltliteratur. Beim Thema Holocaust erweist sich Literatur als ein wesentlicher Teil einer Erinnerungskultur, weil sie aufgerufen ist, Zeugnis abzulegen und Erinnerung zu stiften und zu bewahren. Demgegenüber kann man fragen: Ist die Ästhetisierung ein Teil der Erinnerungsarbeit oder eine Verharmlosung? Im deutschsprachigen Bereich wurde diese Diskussion durch einen einzigen Satz des Philosophen, Soziologen und Kulturkritikers Theodor W. Adorno (1903–1969) ausgelöst, der in der Folgezeit häufig falsch zitiert und falsch verstanden wurde. Adorno hätte gesagt, dass man nach Auschwitz keine Gedichte mehr schreiben dürfe. Das Missverständnis ließ sich dann leicht rechtfertigen mit dem Hinweis, Gedichte würden die Welt insgesamt ästhetisieren, aber die Welt könne und dürfe nach Auschwitz nicht mehr ästhetisiert werden. Und so entspann sich eine weitreichende Diskussion, an der eine Reihe von Autoren teilnahm, welche veränderte Bedeutung Literatur und Kunst nach Auschwitz denn zugesprochen werden müsse oder solle. Tatsächlich hat Adorno in seinem Essay
Kulturkritik und Gesellschaft
aus dem Jahr 1951 den Satz geschrieben: «Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch, und frisst auch die Erkenntnis an, die ausspricht, warum es möglich ward, heute Gedichte zu schreiben.» Pointierte Stimmen haben daraufhin betont, dass es gerade nach Auschwitz darauf ankomme, Gedichte zu schreiben und Kunst zu produzieren.
    Paul Celan (1920–1970) war derjenige Autor (wie neben ihm vielleicht nur noch Nelly Sachs, 1891–1970), dessen gesamtes Werk sich immer wieder um die Frage dreht, wie man denn nach Auschwitz Gedichte schreiben könne. Er wurde als Paul Antschel in Czernowitz geboren und hat den Holocaust am eigenen Leib erfahren. 1941 wurden dort die Juden

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