Die 101 wichtigsten Fragen - die Bibel
von Boas, dem reichsten Mann der Stadt. Als es Ruth gelingt, Boas zu heiraten, sind die beiden Frauen der Sorge um das tägliche Brot enthoben. Ruth bringt einen Sohn zur Welt und wird so – wie der Schluss der Erzählung mitteilt – König Davids Urgroßmutter.
Erzählerischer Höhepunkt der Geschichte ist Ruths nächtlicher Heiratsantrag an Boas. Dem Rat von Noomi folgend begibt sich Ruth, frisch gebadet und parfümiert, zur Tenne der Stadt, wo Boas im Freien übernachtet. Sie «deckt seine Füße auf» (was wohl heißen soll: seine Scham) und nimmt ihm das Versprechen ab, sie zu heiraten. Was in der Nacht auf der Tenne passiert ist, sollen sich Leser und Leserinnen selbst ausmalen. Jedenfalls entlässt Boas Ruth am Morgen als seine Braut – mit dem Eheversprechen und einem Sack Getreide. Möglicherweise ist der Ort des Geschehens bedeutungsvoll: Die Tenne, wo Getreide gedroschen und von der Spreu geschieden wird, könnte als Ort der Fruchtbarkeit gegolten haben; wer dort den Beischlaf vollzieht, hat gute Aussicht auf Nachkommenschaft.
Was Leserinnen an der Geschichte fesselt, sind zwei Züge: die unverbrüchliche Freundschaft zweier Frauen und die kühne Eroberung eines Mannes durch eine selbstbewusste Frau.
21. Mann und Frau im Hohenlied: Sind sie verliebt oder verheiratet? Sie sind nicht verheiratet, sie sind einfach ineinander verliebt. Er ist verrückt nach ihr, sie hat Sehnsucht nach ihm. Verliebtsein wird an folgenden Merkmalen erkannt: Wer verliebt ist, hat nur den Partner oder die Partnerin im Kopf, sehnt sich nach dessen oder deren Gegenwart, schwelgt in erotischen Tagträumen und Phantasien, lobt ihn oder sie ständig anderen gegenüber und neigt zu einer frühlingshaften Verklärung der Umwelt. Alle diese Merkmale lassen sich aus dem Hohenlied belegen.
Das Hohelied, das auch als Hoheslied Salomos bezeichnet wird oder, dem hebräischen Titel folgend, als Lied der Lieder, bietet einen bunten Strauß zärtlicher Liebesgedichte. Abwechselnd treten die Geliebte, der Liebhaber und ein Kommentator oder Chor auf. DieGeliebte wird als Wächterin in den Weinbergen geschildert. Sie ist von der Sonne gebräunt, was als unedel gilt, doch ihre Anmut nicht schmälert. Nicht nur auf freiem Feld finden wir sie, sondern auch in der Stadt, wo sie des Nachts, von ihrer Sehnsucht getäuscht, glaubt, von ihrem Freund besucht zu werden. Als sie die Tür öffnet, findet sie ihn nicht. Sie verlässt das Haus, streift durch die menschenleere Stadt auf der Suche nach dem Geliebten, doch nur, um von den Nachtwächtern aufgegriffen und misshandelt zu werden. Der Geliebte wird als Hirte beschrieben, der Schafe hütet; seine Freundin stiehlt sich aus dem Weinberg zu seiner Weide, um an seiner Seite im Schatten zu ruhen. Auch als König Salomo erscheint der Geliebte, der seine Braut auf einer kostbaren Sänfte heimführt, so dass sich die Welt des königlichen Luxus mit ländlicher Idylle vermischt.
In den Gedichten geben sich beide Partner – die Geliebte und der Liebhaber – ihrer Sehnsucht und ihren Phantasien hin, ohne dass es in Wirklichkeit zu einer Begegnung kommt: Darin besteht die geheime Pointe des Hohenlieds. Gerade das ersehnte Abwesende nimmt leicht die Züge des Idealen und Gültigen an.
Die Präsenz erotischer Dichtung in der Bibel hat die Ausleger der Vergangenheit oft irritiert und dazu angeregt, einen verborgenen Sinn im Hohenlied zu suchen; es galt dann als dramatische Darstellung der Liebe zwischen Gott und dem Volk Israel oder zwischen Christus und der Kirche. Solche allegorischen Auslegungen finden schon im 18. Jahrhundert kaum mehr Anhänger. Moderne Leser bewundern die Unbefangenheit, mit welcher der biblische Dichter von Sexualität spricht. Heute wird das Hohelied auch als Zeugnis weiblicher Befreiung gewürdigt: Die Frau liebt, ohne sich dem Mann zu unterwerfen (Julia Kristeva,
Histoires d’amour
, 1983).
22. Ist Judith eine männermordende Femme fatale? Die Judithgeschichte erzählt von der Belagerung der Stadt Betulja. Als sich die Bedrängnis durch den Feind zuspitzt, ergreift Judith die Initiative. Jung, verwitwet und mutig, wagt sie sich ins Lager des Feindes. Wegen ihrer Schönheit wird sie freundlich aufgenommen. Der Feldherr Holofernes lädt sie in sein Zelt ein, wo er sie verführen will. Judith beginnt, die ihr zugedachte Rolle als jüdische Mätresse zu spielen – doch nur zum Schein. Den Feldherrn hindert sie daran, sich ihr zu nähern. Sie bringt ihn zum Einschlafen, greift zum
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