Die 101 wichtigsten Fragen - Rassismus
(Fanon) zu sein und jeglicher Moral sowie aller Werte zu entbehren. Deshalb war, wie Kipling eine weitverbreitete Meinung zum Ausdruck brachte, Kolonisieren keine Lust, sondern eine Bürde.
Nehmt auf euch des Weißen Mannes Bürde –
schickt die Besten, die ihr aufzieht, hinaus …
Lasst sie schwer gerüstet wachen
über eine Menge, wankelmütig und wild –
eure frisch eingefangenen, tückischen Völkerschaften,
die noch halb Kinder sind, halb Teufel …
Nehmt auf euch des Weißen Mannes Bürde –
erntet, was von jeher sein Lohn war: …
den Tadel derer, die er hütet …
Koloniale Verbrechen konnten so symbolisch zugelassen und zugleich verurteilt werden. Den «Anderen» fehle Geschichte und deshalb auch Zukunft. Dies aufzuheben, hatte sich die
weiße
Welt aufgebürdet – eine effektive Entlastungsstrategie für die verübten Grausamkeiten.
Joseph Conrad (1857–1924) war, obwohl auch seine literarischenCharaktere im Rassismus stecken blieben, einer der wichtigsten Intellektuellen, die bei Erscheinen des Gedichtes widersprachen. Er war Augenzeuge der brutalen Gewalt, die der belgische König zwei Jahrzehnte lang im Kongo ausübte. 1896 berichtete eine deutsche Tageszeitung von 1308 an nur einem Tag abgehackten Händen. Conrads Roman
Heart of Darkness
(1902) erzählt, wie Kolonialismus und Rassismus Weiße jenseits all dessen zurücklassen, was sie als «Zivilisation» ansehen. Dabei lässt er keinen Zweifel daran, dass nicht der Wunsch, Gutes in die Welt zu tragen, der Motor des Imperialismus ist, sondern allein das Ansinnen, sich an den Reichtümern der Kolonien zu bereichern: von Gummi bis Elfenbein, Gold bis Diamanten, Land bis Arbeitskräften.
42. Was hat der Song «Truganini» der australischen Band
Midnight Oil
mit zwei auf Wachszylinder gravierten Liedern zu tun? Weil der niederländische Kapitän Tasman 1642 die Südküste Australiens umschiffte und auf eine Insel traf, die Europäer_innen zuvor nicht bekannt war, trägt sie seit 1856 seinen Namen: Tasmanien. Die Insel war bereits seit 35.000 Jahren von verschiedenen Gesellschaften bevölkert. Die bei Ankunft der Briten Anfang des 19. Jahrhunderts dort lebenden Menschen sind bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts nahezu vollkommen ausgerottet worden.
Als sich die ursprünglichen Eigentümer Tasmaniens zur Wehr setzten, wurde das Standrecht ausgerufen und viele von ihnen missbraucht und getötet. Neue Siedler begingen grauenhafte Verbrechen und Massaker. Es handelte sich bei den Siedlern zunächst vor allem um verurteilte Verbrecher und ihre Bewacher. Aufgrund der überschaubaren Größe diente die Insel Großbritannien als Strafkolonie. Zwischen 1803 und 1853 wurden etwa 75.000 Sträflinge nach Tasmanien gebracht, die auf die zahlenmäßig viel kleinere Bevölkerung regelrecht losgelassen wurden.
1825 wurde die Insel zu einer eigenständigen Kolonie. Jene, die die Gräueltaten überlebt hatten, suchten im Wald Zuflucht und begannen einen Guerillakampf. Der britische Gouverneur versuchte sie zu überreden, sich umsiedeln zu lassen. Diese Botschaft zeigte wenig Wirkung, denn die traumatisierten Menschen hatten wenig Grund, den Versprechen auf Friedfertigkeit und Gerechtigkeit zu glauben. Zugleich fanden weitere Massaker statt. Der Gouverneur, der in England um seinen «guten Ruf» fürchtete, ging deshalb 1830 zu eineranderen Strategie über. Er schickte 2000 bewaffnete Männer los, denen ein Kopfgeld für jeden lebenden Gefangenen versprochen wurde, um die Kolonisierten einzufangen und umzusiedeln. Das Unterfangen scheiterte. Nur ein alter Mann und ein Junge wurden lebend aufgegriffen. Nun trat ein Missionar in Erscheinung. Er sollte die Schwarzen Einwohner_innen überreden, sich freiwillig deportieren zu lassen. Es gelang ihm, sich bei den Guerillakämpfer_innen Gehör zu verschaffen. Viele von ihnen waren entkräftet. Sie willigten ein.
Der Missionar ging als
Chief Protector of Aborigines
mit den maximal 300 Überlebenden nach Flinders Island. Das neugegründete Dorf hieß Wyballena («Häuser der Schwarzen»), der Missionar nannte es «Point Civilization». Währenddessen starben die Menschen weiter – sie hatten alles verloren, ihre Heimat, ihre Familien, ihre Kultur, ihre Religion; Unterernährung und von Europäer_innen eingeschleppte Krankheiten kamen hinzu. 1849 wurde die Siedlung aufgelöst.
Bereits 1838 war der Missionar selbst nach Port Philipp gezogen, wo er ein weiteres Protektorat aufbaute. Einige Bewohner_innen Wyballenas gingen
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