Die 101 wichtigsten Fragen - Rassismus
bestimmten Umständen ebenfalls, und Aufenthaltsgenehmigungen sind in einem klareren juristischen, wenn auch nicht befriedigenden Verfahren zu erlangen. Schieflagen entstehen vor dem Hintergrund, dass diese Verfahren vor allem Personen aus EU-Ländern bzw. einem
weißen
westlichen Land (z.B. Schweiz, USA, Kanada) zugänglich sind, den anderen aber nur schwerlich. Dennoch: Die Bundesrepublik ist ein Einwanderungsland und eine Heimat für Weiße wie People of Color. Heute stellen von der Gesamtbevölkerung in Deutschland fast 20 Prozent jene Menschen, die noch selbst oder von denen mindestens ein Elternteil in einem anderen Land geboren wurden. Hinzu kommen etwa eine Million Menschen, die von den Meldeämtern nicht erfasst sind. Die Bundesrepublik belegt bei absoluten Einwanderungszahlen weltweit nach den USA und Russland den dritten Platz. Aber selbst bei relativen Zahlen, gemessen an der Gesamtbevölkerungszahl, rangieren laut einer UNO-Statistik (2005) vor Deutschland lediglich Staaten mit weitaus geringeren Gesamteinwohnerzahlen – lediglich die USA, die in der UNO-Statistik direkt vor Deutschland auf Platz 50 liegt, hat (deutlich) mehr Einwohner_innen.
Warum wird dennoch oft behauptet, Deutschland sei kein Einwanderungsland? Dass People of Color unabhängig von ihrem deutschen Pass als «Ausländer» angesehen werden, ist ein wesentlicher Grund, wie die SPD-Bundestagsabgeordnete Lale Akgün im März 2003 in einer Bundestagsdebatte betonte. In den Worten Edmund Stoibers (CSU) klingt das so: Es habe eine «ganz erhebliche Zuwanderung» gegeben, «die aber nichts mit Einwanderung zu tun hat».
Wie auch «Gastarbeiter» signalisiert «Zuwanderung» also, dass Migrant_innen additiv zur «deutschen» Gesellschaft ergänzt, jedoch nicht Teil Deutschlands werden können. Genau das ist aber im WortEinwanderung angelegt – weswegen diesen Begriff viele scheuen. Spätere Generationen werden sich wahrscheinlich über diese Debatten wundern, sie eventuell gar nicht mehr verstehen – das ist jedenfalls zu hoffen.
91. Wer hat einen Migrationshintergrund? Wer hat keinen, ließe sich zurückfragen.
Migration ist eine Handlung, die Menschen und ihre Gesellschaften sowie deren Wissen, Erfahrungen und Sprachen stets in Bewegung hielt und dynamisch antrieb. «Den ‹Homo migrans› gibt es, seit es den ‹Homo sapiens› gibt», schreibt Klaus Bade, «denn Wanderungen gehören zur Conditio humana wie Geburt, Fortpflanzung, Krankheit und Tod.» Das «goldene Zeitalter» einer homogenen Gesellschaft gab es nie.
Migration stellt einen Oberbegriff dar, der alle Arten von Wanderungen umfasst. Zwar ist nicht jeder Umzug eine Migration, doch jeder Ortswechsel, der über geopolitisch relevante Grenzen führt oder strukturell einen Paradigmenwechsel mit sich bringt, ist als Migration zu bezeichnen. Die prinzipiellen Unterteilungen in Aus-, Ein- und Binnenwanderung, in Emigration und Immigration, die auf den Raum, die Bewegungsrichtung und die Dauer der Migration abheben, lassen sich weiter nach Anlässen, Motiven und Zwecken differenzieren. Wirtschaftliche und beruflich-sozial motivierte Migrationen können von religiös-weltanschaulichen und politischen Fluchtgründen unterschieden werden, die etwa durch Diktatur, Rassismus und/oder geschlechtsspezifische Diskriminierung bedingt sind.
Auch bei der im Wort «Migrationshintergrund» angesprochenen Migration geht es um eine sehr spezifische Form von Migration, nämlich um eine, bei der nicht mehr die eigene oder zumindest familiär nahe Migrationserfahrung im Zentrum steht. Es geht darum, dass jemand einen migrantischen Hintergrund «im Sinne eines Familienbaums» habe, «dessen Wurzeln mitunter auch außerhalb Deutschlands liegen». In diesem Sinne hat wohl jeder Mensch in diesem Land einen Migrationshintergrund. «Man grabe nur tief genug», schreibt Deniz Utlu. Doch auch um diese Komplexität von Familiengeschichten geht es beim Migrationshintergrund letztlich gar nicht. Ein solcher wird zugesprochen, sobald eine Person, die nicht ins Mainstream-Profil des
weißen
Deutschlands gehört, in derAhn_innengalerie (oder besser im eigenen Körper als dessen Archiv) aufblitzt. Diese Form von Immigration verjährt erst, wenn sie sich dem im rassistischen Sehen geübten Auge nicht mehr zu erkennen gibt. Das Entscheidende ist, dass diese Menschen für viele Weiße so aussehen, als seien sie nicht in Deutschland geboren worden. Auch Namen, Religionen oder bestimmte sprachliche Akzente
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