Die 101 wichtigsten Fragen - Rassismus
Grundsäulen der europäischen Geschichte in ihren Ambivalenzen anzuerkennen. Dies schließt ein, ihre diskursiven und strukturellen Verwandtschaften mit Kolonialismus, Rassismus, Nationalsozialismus und Totalitarismus offenzulegen und zu betonen, dass sich der Kolonialismus strukturell und diskursiv nachhaltig auf Europa ausgewirkt hat. Statt Rassismus als Betriebsunfall einer in Europa hervorgebrachten Moderne zu lesen, der überwunden sei, wird dieser so als ein konstitutives Element anerkannt. Die Logik der «Rassentheorien» wurde beispielsweise in Modernisierungstheorien überführt, die aber anstelle von «Rasse» als Konstrukt nunmehr auf ein Konzept von «moderner Entwicklung» rekurrierten.
Dieser Ansatz schließt ein zu hinterfragen, ob es nur
eine
Moderne gebe. Auch wenn Europa sich anschickte, die Welt zu kolonisieren: zu keinem Zeitpunkt traf es auf ein historisches oder kulturelles Vakuum. Die begleitenden Prozesse der Aneignung, die sich weltweit vollzogen, wirkten auf Europa zurück.
Im Ergebnis wird die Annahme eines naturgegebenen, eindeutigreligiös oder kulturell definierbaren, homogenen Kulturraumes «Okzident» erschüttert, der als Zentrum und Norm zu gelten habe. Ebenso wie europäische Selbstverständnisse erschüttert die Provinzialisierung Europas auch tradierte Grenzen von Nationen. Als direktes Ergebnis der jahrhundertelangen europäischen Eroberungspolitik sind die immer rezenten Migrationsströme, die Menschen aus Europas ehemaligen Kolonien mitsamt ihrer kulturellen und religiösen Prägungen und Wissenssystemen in die europäischen Zentren brachte, und die stetig wachsenden neuen Diasporas in Europa ein offensichtlicher und zentraler Schauplatz von Europa als provinzialisiertem Raum. Die Sucht, die Erde zu europäisieren, hat auf Europa zurückgewirkt und verlangt nach einer postkolonialen Provinzialisierung und Resituierung Europas als transkulturellem, transreligiösem und transnationalem Ort für alle, die sich als europäisch verstehen.
89. Was sind Diasporas und was machen sie mit Europa?
Diaspora
meint, von seiner Wortherkunft her,
Zerstreuung.
Schon in der Antike wurde der Begriff zur Beschreibung menschlicher Migrationsprozesse herangezogen. Es waren Provinzen außerhalb der hellenistischen Metropolen, die die griechische Diaspora konstituierten. Im jüdischen Verständnis erfuhr der Begriff einen Bedeutungswandel. Er transportierte nunmehr Erfahrungen der Zerstörung des heiligen Tempels und der Vertreibung der Jüdinnen und Juden aus Palästina mit dem Ergebnis ihrer «Zerstreuung» über die ganze Welt. Der Gesichtspunkt der Freiwilligkeit war dabei Aspekten wie Zwang, Gewalt, Vertreibung und Trauma gewichen.
Im Zusammenhang mit Globalisierungstheorien der 1990er Jahre erfuhr der Begriff Diaspora einen neuerlichen Bedeutungswandel. Nunmehr wird von der Koexistenz einer Vielzahl von Diasporas ausgegangen, die analoge und divergierende gesellschaftliche Prozesse beschreiben. Der Oxforder Migrationsforscher Robin Cohen unterteilt fünf idealtypische Arten moderner Diasporas. Neben der «victim diaspora», zu denen die jüdische wie auch die afrikanische oder armenische Diaspora zählen, benennt er noch «labor diasporas», die er am Beispiel indischer Vertragsarbeiter diskutiert, «trade diasporas», denen er libanesische oder chinesische Handelsnetzwerke zuordnet, «cultural diasporas», die er ausgehend von der karibischen Migrationsgeschichte vorstellt, sowie «imperial diasporas», diein historischer Analogie zum ursprünglichen griechischen Gebrauch des Wortes weiße Siedlerkolonien in der ganzen Welt meinen.
Migrations- und Vertreibungsprozesse, die im Zuge von Kolonialismus und Nationalsozialismus vor allem in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert zuvor nicht gekannte Ausmaße annahmen, hinterließen globale Spuren. Migrant_innen wandern, um neue gesellschaftliche Räume zu erschließen. Diaspora wird Heimat fern der Heimat, wobei als gemeinsam angenommene historische und kulturelle Erfahrungen zum Bindeglied im Residenzland werden und das Heimatland in der kollektiven Erinnerung als Mythos inszeniert wird. Gleichzeitig ergibt sich das diasporische Zusammengehörigkeitsgefühl aus analogen Erfahrungen wie etwa Ausgrenzung und Diskriminierung im Residenzland. Zugleich schreiben sich die diasporischen Kulturen in die Gesellschaften ihrer Residenzländer ein, selbst wenn dies mit Empörung und politischen Maßnahmen verhindert werden soll oder verleugnet wird.
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