Die 101 wichtigsten Fragen - Rassismus
So werden migrierte Selbstverständnisse in den Diasporas ebenso ständig neu verhandelt und hergestellt wie kulturelle Selbstverständnisse der jeweiligen Residenzländer.
In und durch Diasporas entstehen neue Verbindungs- und Grenzräume, die Europas innere und äußere Grenzen neu entwerfen und damit Europas Selbstverständnis insgesamt. Es entstehen
Transräume,
die europäische und nicht-europäische Räume verweben.
90. Ist Deutschland ein Einwanderungsland? Kaum jemand würde die Frage verneinen, wenn es um die USA oder Israel geht. Aber Deutschland?
Bis ins ausgehende 19. Jahrhundert hinein war Deutschland vor allem ein Auswanderungsland. Die in Deutschland bestehenden sozialen Probleme wurden, wie der Migrationsforscher Klaus Bade anmerkt, exportiert. Industrialisierung, Wirtschaftswachstum, Urbanisierung, um einige Stichworte zu nennen, führten ab 1895 erstmals dazu, dass die Zuwanderungsrate im Kaiserreich die Auswanderung überstieg. Um 1900 wurden die Einwanderungszahlen nach Deutschland lediglich von den USA übertroffen (Russland oder China hatten gewaltige «Binnenwanderungen» zu verzeichnen). Der Historiker Dieter Gosewinkel zeigt, dass in dieser Zeit Deutschland «zum Arbeitsimportland» wurde «und damit – auf lange Sicht – den strukturellen Umbruch zum Einwanderungsland» vollzog. DieseMobilität wurde von vielen als Bedrohung, v.a. für die deutsche Kultur und Sprache, wahrgenommen.
Nach jahrzehntelangen Debatten wurde 1913 ein neues, von der linken Opposition kritisiertes Staatsbürgerschaftsrecht erlassen, das auf dem
ius sanguinis
aufbaute und «Deutschsein» an Kriterien wie «Abstammung» oder «Blutsverwandtschaft» band. Es war zudem an Nützlichkeit (Arbeit) sowie Wehrhaftigkeit (Militärdienst) geknüpft, d.h. vor allem durch Erfüllung dieser Kriterien konnten Ausländer_innen die deutsche Staatsbürgerschaft erhalten.
Nach der NS-Diktatur war Deutschland so
weiß
und christlich wie sonst nie in seiner Geschichte. Als Lehre aus der Geschichte verpflichtete sich die Bundesrepublik zu einer Asylpolitik, Menschen in Notsituationen Schutz und Heimat zu bieten. Davon machten zunächst wenige Gebrauch. Aber mit Arbeitsangeboten sind vor allem Arbeiter_innen aus Italien, Spanien, Griechenland, Jugoslawien und der Türkei als «Gastarbeiter» in die Bundesrepublik geholt worden. Der Begriff war Programm: Sie wurden als Gäste geduldet, solange sie gebraucht wurden. Doch viele von denen, die die Bundesrepublik eigentlich wieder verlassen sollten, blieben, gründeten Familien und eigene gesellschaftliche Strukturen. Die Bundesrepublik veränderte sich nachhaltig. In der abgeschotteten DDR gab es eine solche Entwicklung nicht; so genannte Vertragsarbeiter hatten in den 1970/80er Jahren keinen freien Status, ihr Aufenthalt war strikt befristet, sie lebten isoliert von der übrigen Bevölkerung und unter unwürdigen Umständen.
Mitte der 1960er Jahre betonte die Bonner Regierung unter Ludwig Erhard, man benötige keine ausländischen Arbeitskräfte mehr. Nach der ersten nennenswerten Wirtschaftskrise in der bundesdeutschen Geschichte (Ölkrise 1973) erneuerte die Brandt-Regierung dies. Sowohl die Regierungen Schmidt wie Kohl unterstrichen: «Deutschland soll und will kein Einwanderungsland werden». Von dieser Aussage war es nur ein denkbar kurzer Schritt zu dem nicht minder illiberalen Slogan: «Das Boot ist voll!» Der entsprechend konnotierte Spruch selbst ist in der Schweiz in Reaktion auf NS-Flüchtlinge entstanden. Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahre war dieser Spruch, angewandt auf die innenpolitischen Verhältnisse der Bundesrepublik, an Zynismus kaum zu überbieten. Zwischen 1975 und 1983 flüchteten auf fast immer völlig überladenen Schiffen bis zu 1,6 Millionen Vietnames_innen. Unter den Augen einer aufgewühlten Weltöffentlichkeit kamen etwa 250.000 dieser
Boat People
auf offener See ums Leben. 2011 ertranken über 1500 afrikanische Flüchtlinge im Mittelmeer.
Die Schröder-Regierung regelte ab 1999 das Staatsangehörigkeitsrecht neu und brachte erfolgreich ein Zuwanderungsgesetz mit weiteren gesetzlichen Regelungen ins Parlament ein. Nicht zuletzt im Angesicht der Tatsache, dass die Geburtenentwicklung ohne Einwanderungen in wenigen Jahrzehnten ein völlig verändertes Deutschland entstehen ließe, das die kostenintensive Sozial- und Rentenpolitik nicht mehr finanzieren könnte, wurden Einbürgerungen einfacher, doppelte Staatsangehörigkeiten unter
Weitere Kostenlose Bücher