Die 101 wichtigsten Fragen - Rassismus
egal welcher Hautfarbe.» Dabei liegt sie fast richtig, denn im Grundgesetz Artikel 3 ist nicht von «Hautfarben», sondern von «Rassen» die Rede, was im Prinzip heißen soll: «Niemand darf rassistisch diskriminiert werden».
Dass «Hautfarbe» bis heute eine immense Aussagekraft hat, lässt sich nicht einfach dadurch überwinden, dass man sagt: Ich sehe keine «Hautfarben», weil ich Antirassistin bin und sie deswegen nicht mehr sehen will. Antirassismus ist wirkungsvoller, wenn das Wahrnehmen von «Hautfarben» in eine alternative Konzeptualisierung überführt wird. Statt biologistisch auf eine dunkle Hautfarbe zu rekurrieren, kann von der Position gesprochen werden, die der Rassismus einem vermittels «Hautfarbe» zuweist – und zwar unabhängig vom individuellen Wollen. Ich spreche von Weißen undPeople of Color oder Schwarzen. Auf diese Weise kann das Sehen von «Hautfarben» in einer Weise benannt werden, die sich Rassismus widersetzt. Mit anderen Worten: Nicht dass «Hautfarben» gesehen werden, sondern wie sie gesehen und gewertet werden, ist neu zu gestalten – auch von Alt-Bundespräsidentengattinnen und juristisch legitimierten rassistischen Rasterfahndungen.
Wo das enden kann, zeigt eine jüngste Tragödie Ende Februar 2012. Als er kurz sein Zuhause verließ, um sich Süßigkeiten und Eistee zu kaufen, wurde der 17-jährige Trayvon Martin von George Zimmerman in Florida erschossen, weil dieser den Teenager für kriminell hielt. Präsident Barack Obama fand dafür folgende Worte: «Hätte ich einen Sohn, sähe er aus wie Trayvon Martin.»
VII. Rassismus und Migration
88. Warum soll Europa provinzialisiert werden? Die Europa-Utopie ist jahrhundertealt. Ab wann Menschen in Europa begannen, sich
auch
als Europäerinnen und Europäer zu begreifen, ist ebenso umstritten wie die Frage, ob Europa je zu einem zentralen Identifikationsmuster reifen wird. Letztlich ist «Europa» ein dem Wandel der Zeit unterworfener unscharfer Begriff. Ideengeschichtlich ist Europa ein altes Projekt, das sich vor allem in seiner Abgrenzung nach außen Form und Inhalt zu geben suchte.
Europa wird eine Einheit in der Vielfalt unterstellt. Kritiker_innen halten entgegen, Europa solle nicht als Resultat von Verbindungen und Synthesen, sondern von Unterscheidungen betrachtet werden. Der Historiker Wolfgang Schmale ergänzt, europäische Geschichte und Gegenwart finde dort statt, «wo Menschen Europa imaginieren und visualisieren …». Dabei kommen dann Dynamiken zum Vorschein, die das «Fremde» und das «Eigene» obsolet erscheinen lassen und in den Blick nehmen, dass das europäische Projekt der «Europäisierung der Erde» (Wolfgang Reinhard) vor allem auch Europa und Europäer_innen selbst konturiert.
Diesen Aspekt macht der indische Historiker Dipesh Chakrabarty stark, der den methodisch-theoretischen Ansatz entwickelt hat, Europa zu provinzialisieren: Er vertritt die These, dass Europa bislang immer als «Moderne» gedacht und mit ihr gleichgesetzt worden sei. Dabei würden der Aufklärung zugeschriebene Konzepte als Ausgangspunktder «First in Europe, then elsewhere»-Struktur fungieren. Raum und Zeit zusammen denkend erlaube es diese Denkfigur, «historische Zeit als Maßeinheit kultureller Distanz» zu denken – zunächst zwischen dem Westen und dem Nicht-Westen, später aber auch transferiert auf andere Zentrum-Peripherie-Kontexte. Chakrabarty macht darauf aufmerksam, wie diese «waiting-room version of history» Hierarchien und Dominanzen legitimiert – so eben etwa auch das koloniale Projekt im Dienste der «Zivilisierung» so genannter «not yet»-Kulturen. Auf diese Weise sei es dazu gekommen, dass politische und kulturelle Prozesse in der ganzen Welt stets ausgehend von einer europäischen Meta-Erzählung betrachtet worden seien. Diese Einsicht eröffnet Möglichkeiten der kritischen Hinterfragung eben dieser Meta-Erzählung. Dabei geht es nicht um eine eventuelle Zurückweisung oder Negation von «europäischem Denken», sondern darum, die «europäische Moderne» in ihren Ambivalenzen und Widersprüchlichkeiten sowie in ihren globalen Dimensionen zu denken. Vor diesem Hintergrund kommt Chakrabarty zu dem Schluss, dass das Projekt anstünde, Europa zu provinzialisieren und die Moderne auch als Misserfolgsgeschichte zu lesen, in der Kolonialismus, Faschismus/Nationalsozialismus oder Kommunismus keine Ausrutscher, sondern reguläre Ausformungen darstellen.
Chakrabartys Provinzialisierung öffnet den Weg,
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