Die 101 wichtigsten Fragen - Rassismus
Teenager das tun, sondern weil sie einen
Afro
hat und an sich weibliche Rundungen entdeckt, die sie dem Schwarzsein zuschreibt – beides ist ihr rassialisierend ansozialisiert worden. Im Spiegel kann sie sich morgens nicht sehen. Im Englischunterricht werden an diesem Tag Shakespeares Sonette verhandelt, jene, die von einer «black mistress» erzählen. In Irie Jones keimt Hoffnung auf. Sollte in einer Schwarzen Frau doch Schönheit wohnen können? Schließlich wird die in den Sonetten besungene Frau als black bezeichnet, hat schwarze Augen, braune Brüste und Haare wie Drähte. Hat sie Rastas? Ist sie eine Schwarze? Die
weiße
Lehrerin ist entrüstet. Nein, es handele sich doch nicht um eine Schwarze Frau, sondern um eine «dark lady», die so brünett sei wie sie. Für einen Moment hatte Irie geglaubt, schön sein zu können, ein Spiegelbild von sich zu erkennen und zu England dazuzugehören. Diese Hoffnung zerplatzt und gleich nach der Schule geht sie zum Friseur, um ihren
Afro
loszuwerden und ihre Haare zu glätten. Die schmerzhafte Chemie-Prozedur kostet sie fast alle ihre Haare und die besorgte Friseurin schickt sie los, sich neue zu kaufen – und das sind die Haare einer Inderin, die ihre eigenen Haare verkauft hat, um ihren Kindern etwas zu Essen kaufen zu können. Am Ende hat Irie glatte Haare und ist glücklich. Doch eine Freundin, die
Niece-of-Shame,
ist entsetzt. Sie nennt Irie ungebildet und besteht darauf, dass ihr
Afro
cool war und schön – auch weil es ihrer war. Irie schaut in den Spiegel und erschrickt. Sieht sie nicht aus, als sei sie das Kindvon Diana Ross und Engelbert Humperdinck? Sie reißt sich die falschen Haare heraus und weiß jetzt:
Black is beautiful,
das ist das, was die Sonette sagen und die
Niece-of-Shame
sie lehrte.
Dieses Kapitel erzählt: Für viele Schwarze bedarf es Mut, für sich das anzunehmen, was von der
weißen
Norm ausgeschlossen wird. Und wenn einem gesagt wird, ich möchte deine Haare anfassen, weil ich neugierig auf sie bin, dann heißt das auch: Du siehst gar nicht aus wie ich, ich aber sehe «normal» aus. Und hinter der Frage, wie wäschst bzw. kämmst du deine Haare, steckt nicht das Interesse an der Antwort «Mit Seife und Kamm, wie sonst», sondern der kolonialistische Diskurs, der Schwarzen fehlende Hygiene und einen dreckigen und kontaminierten Körper unterstellt. Deswegen dichtet die afrodeutsche Künstlerin Noah Sow in «Keine Kommentare (über meine Haare)»: «du siehst gar nicht aus wie ich/und mit wem vergleich ich dich/ich bin’s müde zu versteh’n/wo du Unterschiede siehst … wir sind millionen und überall/und du glaubst du bist normal/du bist nicht das einzig wahre/also keine kommentare über meine haare».
VIII. Rassismus – Ein Fazit
97. Kann man aus der Geschichte lernen? Die Vergangenheit können wir nicht ändern. Aber mit Hilfe der zur Geschichte geronnenen Vergangenheit können wir Gegenwart und Zukunft verändern. Geschichte lehrt uns nicht unbedingt, wie wir etwas anders oder besser machen können. Sie liefert uns aber genügend Beispiele und Anschauungsmaterial, wie wir etwas nicht machen sollten.
Könnte man nicht aus der Geschichte lernen, dann wären Bücher wie diese (und Millionen andere) überflüssig. «Wenn du regennass bist und deine Sachen trocknen möchtest, so gehe dahin zurück, wo der Regen dich anfing zu durchnässen», lautet ein igboisches Sprichwort, das der nigerianische Schriftsteller Chinua Achebe, Träger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 2002, in seinem Roman
Things Fall Apart
(dt.
Das Alte zerbricht
) in die Welt getragen hat. Diese Weisheit lehrt uns, dass der kürzeste Weg in die Zukunft die Geschichte ist. Im Umgang mit Rassismus bedeutet dies, Rassismus nicht als Laune Einzelner zu begreifen, die sich historisch verirrten, sondern als Ideengeschichte, die so lange von Dauer ist, wie wir einzelneEreignisse isoliert zu verstehen versuchen. Wenn wir Geschichte als aufeinanderfolgende und aufeinander aufbauende Ereigniskette begreifen, die Menschen nicht nur zustieß, sondern auch von Menschen gemacht wurde, können wir Wege finden, Ereignisse zu gestalten, die diese Kette unterbrechen. Deswegen können wir nicht nur, sondern müssen wir aus der Geschichte lernen.
98. Was sollte am Grundgesetz geändert werden? Der Artikel 3 des Grundgesetzes lautet: «(1) Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich. (2) Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Der Staat fördert die tatsächliche
Weitere Kostenlose Bücher