Die 101 wichtigsten Fragen - Rassismus
pseudofeministischen Argumentationen gibt es, wie Iris Mendel und Petra Neuhold 2011 schrieben, «ein kolonialistisches und rassistisches Erbe im Feminismus. Gegenwärtig sind es v.a. liberale Feministinnen, am prominentesten wohl Alice Schwarzer, die zum Schutz ‹anderer› Frauen aufrufen. Daher ist der von Spivak identifizierte Topos zu erweitern auf ‹white women saving brown women from brown men›.»
95. Wann nervt die Frage: «Wo kommst du her?» Häufig ist es sehr naheliegend, jemanden zu fragen: Wo kommst du her? Wenn sich etwa in Lwiw zwei Leute anrempeln und reflexartig «’tschuldigung» sagen, mag so eine Frage für beide Seiten interessant sein, um herauszufinden: Eint sie, geographisch gesehen, noch mehr, als dass beide Deutsch sprechen? Wenn aber zwei Leute, die sich nicht kennen, bei der Party eines gemeinsamen Freundes nebeneinander stehen und eine Person fragt die andere: «Wo kommst du her?», dann ist diese Art des Gesprächseinstiegs nicht zwangsläufig naheliegend.Meist leitet sich der Austausch über die jeweilige Familiengeschichte aus einem längeren Gespräch her, das auf der Übereinkunft aufbaut, jetzt von sich selbst zu erzählen oder vom anderen etwas wissen zu wollen. Überhaupt wird diese Frage eher selten gestellt, wenn einander unbekannte
weiße
Personen aufeinander treffen (es sei denn, ein Name klingt in den eigenen Ohren ungewohnt oder jemand spricht mit einem Akzent). Doch wenn eine der beiden Personen eine Person of Color ist, fällt diese Frage sehr häufig – und zwar adressiert an die Person of Color.
Die Frage nervt viele, weil dahinter kein Zufall, sondern ein ständig wiedererlebtes Prinzip steht, das sich spätestens dann zu erkennen gibt, wenn eine Antwort wie «aus Deutschland», «aus Berlin», aus «Wattenscheid» oder «ich wohne hier gleich um die Ecke» die fragende Person nicht befriedigt, sondern zu der Nachfrage veranlasst: «Ja, aber ich meine, wo kommst du denn
eigentlich
her?»
Die Frage «Wo kommst du her?» beinhaltet in diesem Kontext: Du siehst so aus, als seist du nicht aus Deutschland. Bist du schon hier geboren? Du fällst (mir) auf, weil du nicht
weiß
bist. Wo kommen denn deine Eltern her? Wie lange bleibst du?
In jenen Situationen, die für People of Color in Deutschland zum Alltag gehören, wäre die fragende
weiße
Person sicher irritiert, wenn sie zurückgefragt würde: «Und du, wo kommst du her?» Dies ist eine der fünf Lieblingsantworten des Protagonisten in Mutlu Ergüns Roman
Die geheimen Tagebücher der Kara Günlück.
Auf Platz eins steht übrigens: «aus Mama».
96. Ist es rassistisch, Schwarzen in die Haare zu fassen? Die meisten Weißen quittieren diese Frage mit einem verständnislos-irritierten Blick. Was könnte daran schon rassistisch sein? Was aber, wenn es Fremde sind, die Schwarzen in die Haare fassen oder Bekannte, die dies unerwartet oder von merkwürdigen Kommentaren begleitet tun, etwa mit der Begründung, dass das Haar doch lustig, eigenartig, komisch – eben «anders» sei? Was, wenn dies nicht manchmal, sondern häufig passiert? Was, wenn dies einhergeht mit Fragen danach, wie er oder sie das Haar wasche oder kämme? Das ist nicht einfach nur unangenehm und unangemessen, sondern hat etwas mit Rassismus zu tun. Dieser hat Haare zu einem der Träger körperlicher und rassischer Differenz gemacht. Haare von Afrikaner_innen sind sehr verschieden, gleichwohl verschmelzen all diese Versionen vonHaar im Rassismus zu einem stigmatisierten Bild von «afrikanischen Haaren». Schon antike Klimatheorien unterstellen, dass die Haare der Äthiopier_innen von der Sonne ausgetrocknet seien und dies auch für ihre Hirne gelte. Im Kontext von Sklaverei und Kolonialismus galt das Haar der versklavten Menschen den Weißen als Symbol von Unordnung und Dreck, «Primitivität» und fehlender «Zivilisation», körperlicher Unvollkommenheit und Hässlichkeit, kurz: von Unterlegenheit. Es mag kaum überraschen, dass diese
weißen
Blicke auf die Haare das Selbstwertgefühl von Schwarzen nachhaltig schädigten, Haare aber zugleich auch ein Ort des Widerstandes gegen Rassismus wurden.
Afros
und
Rastas
sind exemplarische Zeugnisse dieses Widerstandes.
In ihrem 2000 veröffentlichen Debütroman
White Teeth
(dt.
Zähne zeigen
) hat die Schwarze britische Autorin Zadie Smith dieser komplexen Haar-Geschichte ein Kapitel mit dem Titel
The Miseducation of Irie Jones
gewidmet. Irie Jones findet sich hässlich – nicht einfach, weil viele
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