Die 13 1/2 Leben des Käptn Blaubär
gerade weiterschleichen, als ein deutliches »Herein!« meine Bewegung einfror. Noch nie hatte jemand das geheimnisvolle Reich des Professors betreten dürfen. Ich grübelte noch darüber nach, ob ich mich etwa verhört hätte, als ich Nachtigallers Stimme zum zweiten Mal vernahm:
»Herein, wenn es kein Lichtstrahl ist!«
Als ich die Tür zur Kammer öffnete, hatte ich den Eindruck, daß mir die Finsternis regelrecht entgegenquoll, wie flüssige schwarze Watte. Nachtigaller kommandierte: »Reinkommen! Tür zu!«, also schlüpfte ich gehorsam hinein. Die Finsternis, die mich umgab, als ich die Tür hinter mir zugeschlagen hatte, war so vollkommen, daß ich es mit der Angst bekam. Es war eine Dunkelheit, die man körperlich spüren konnte, ähnlich wie die damals auf der Klabauterin-. sel, als ich zum ersten Mal eine Nacht ohne Licht erlebte. Diese Schwärze hier aber konnte man sogar hören. Sie umfaßte mich wie eine kalte Faust und summte mir einen dünnen, hoffnungslosen Ton ins Ohr, der alle Härchen meines Fells für einen Augenblick aufrecht stehen ließ.
Ich war erst wenige Sekunden in der Kammer, da hatte ich schon das Gefühl, seit meiner Geburt blind zu sein und gar nicht zu wissen, was Licht überhaupt ist. Augenblicklich tastete ich nach der Türklinke, aber ich wußte nicht einmal mehr, wo hinten und vorne war, geschweige denn oben und unten. Ich kam mir vor, als schwebte ich in einem Weltraum ohne Sterne, schwerelos und mutterseelenallein.
»Hiergeblieben!« blaffte Professor Nachtigaller unwirsch. »Man gewöhnt sich daran.«
Ich hatte nicht die geringste Ahnung, wo er sich befand. Am liebsten wäre ich schreiend davongelaufen, aber ich versuchte, höflich zu bleiben.
»Es ist, äh, sehr dunkel hier drin«, untertrieb ich.
»Papperlapapp!« schnarrte Nachtigaller. »Wir haben gerade mal vierhundert Nachtigall.«
»Nachtigall«, das wußte ich aus dem Unterricht, war eine vom Professor erfundene Maßeinheit für Dunkelheit. Bescheidenheit war nicht seine Sache. Ein Nachtigall entspricht ungefähr einer sternenlosen Nacht, in der Mondfinsternis herrscht. Um ein realistischeres Beispiel zu nennen: In einem luftdicht geschlossenen Kühlschrank (nachdem die Lampe ausgegangen ist) herrscht genau ein Nachtigall. Vierhundert Nachtigall entsprechen also der Düsternis, die in vierhundert geschlossenen Kühlschränken herrscht. Und es war etwa genauso kalt.
»Der Nachtigallerator läuft gerade mal auf halber Kraft. Ich habe mir sogar die Augen verbunden, weil es mir zu hell war.«
Nachtigaller nahm sich die Augenbinde ab. Ich sah es daran, daß seine Augen im Dunkel plötzlich aufflammten wie sehten, sicher als düster bezeichnet, aber nach der vorherigen Finsternis empfand ich es fast schon als hell. Ich konnte zumindest die Umrisse eines kuriosen Apparates erkennen, an dem Nachtigaller hantierte.
Er sah aus wie eine verkleinerte Fabrik, oder besser wie mehrere ineinander verschachtelte kleine Fabriken, mit Hunderten von winzigen Schornsteinen, mit kleinen Kesseln, Silos und unzähligen Rohren, Kabeln und Zahnrädern, Pumpen und Aggregaten. Es gab Blasebalge, die sich hoben und senkten, Kolben, die sich ineinanderschoben, kleine Kamine, aus denen ab und zu ein Feuerstrahl schoß, und Luftschächte, aus denen schwarzer Dampf quoll. (Man wird vielleicht anmerken, daß es keinen schwarzen Dampf gibt und ich ihn mit schwarzem Qualm verwechsele, aber ich muß darauf bestehen, daß das, was aus dem Nachtigallerator quoll, geruchloser Wasserdampf war, nur eben nicht weiß, sondern schwarz wie die Nacht.)
Ich glaubte sogar winzige Schatten über die kleinen Eisentreppen und Metallroste huschen zu sehen, winzige Miniaturarbeiter mit noch winzigeren Schraubenschlüsseln aber das war sicher nur Einbildung. Das mechanische Stampfen wurde immer langsamer, erstarb aber nie.
»Was ist ein Nachtigallerator?« erdreistete ich mich zu fragen.
»Ein Nachtigallerator«, schwadronierte Professor Nachtigaller wie auf Knopfdruck los, »ist eine Maschine zur Herstellung von Dunkelheit, die ich selbst erfunden habe! Man kann mit diesem famosen Gerät vermittels sogenannter Nachtigallerstrahlen besonders dunkle sternenlose Stücke aus dem Nachthimmel schneiden und direkt hier hinein in diese Kammer transportieren. Die Maschine speichert und filtert diese Finsternis, durch sie kann ich sie abfüllen wie von einem Weinfaß. Ich kann sie auch verdicken oder verdünnen, je nach Bedarf. Ein Triumph der Dunkelheitsforforschung -
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