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Die 13 1/2 Leben des Käptn Blaubär

Die 13 1/2 Leben des Käptn Blaubär

Titel: Die 13 1/2 Leben des Käptn Blaubär Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Moehrs
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während ich mich Schritt für Schritt dahin bewegte, wo ich den Ausgang vermutete.
    »Die Tür liegt in der anderen Richtung«, murmelte Nachtigaller abwesend. Doch plötzlich schien er aus seinen Gedanken aufzuschrecken.
    »Nein ... bleib hier ... bitte!« sagte der Professor plötzlich ungewohnt höflich und leise. »Wir könnten uns ein bißchen unterhalten.«
    Das war neu. Bisher hatte sich Nachtigaller nie mit mir unterhalten. Er unterhielt sich grundsätzlich mit niemandem. Ein Gespräch bedeutete für ihn, daß er dozierte, wahrend andere gierig sein Wissen inhalierten. Eine schüchterne Frage war ihm gelegentlich willkommen, um ihm die Möglichkeit für einen neuen längeren Monolog zu geben, aber alltägliches Gerede war ihm zuwider. Eydeeten hassen Konversation. »Du wirst dich wahrscheinlich schon einmal gefragt haben, wieso du hier in so kurzer Zeit so viel gelernt hast«, eröffnete Nachtigaller das Gespräch.
    »Vielleicht bin ich besonders begabt?« antwortete ich etwas unvorsichtig.
    »Ach was - begabt! Unfug!« schnarrte Nachtigaller so laut, daß ich einen Schritt zurückwich.
    »Entschuldigung ...« Er senkte wieder die Stimme. Er war es einfach nicht gewohnt, ein normales Gespräch zu führen, aber er gab sich alle Mühe.
    »Macht Groot auf dich etwa den Eindruck, er wäre irgendwie begabt? In seinem Quadratschädel sitzt ein Gehirn von der Größe eines Atomkerns! Wenn man das Licht ausmacht, glaubt er, um ihn herum verschwindet die Welt! Aber wenn ich mit ihm fertig bin, wird er mit seinem Wissensstand in der Lage sein, mit verbundenen Augen ein U-Boot zu bauen oder ein Mittel gegen den Schnupfen zu erfinden. Das hat nichts mit Begabung zu tun. Es sind die Bakterien.« »Bakterien?« Ich wußte natürlich, daß Bakterien winzige Organismen sind, die Krankheiten übertragen können. »Genau. Du mußt dir einfach vorstellen, daß Wissen eine Krankheit ist. Und wir Eydeeten übertragen diese Krankheit. Je näher eine Person mit einem Eydeeten zusammen ist, mit desto mehr Wissen wird sie infiziert. Komm einen Schritt näher.«
    Ich ging einen Schritt auf ihn zu, obwohl mir die Vorstellung, daß er ein Krankheitsherd sei, gar nicht behagte. So nah war ich ihm noch nie gekommen, auch nicht während des Unterrichts.
    »Näher!« befahl Nachtigaller.
    Ich trat noch einen Schritt näher. Plötzlich brandete eine Welle von Informationen durch mein Gehirn. Es ging dabei um die Dunkelheitsforschung, ein Gebiet, mit dem ich mich nie eingehend befaßt hatte. Jetzt aber hatte ich urplötzlich das Gefühl, ein Experte dieser Wissenschaft zu sein. »Sag mal«, forderte Professor Nachtigaller, »was weißt du jetzt über Dunkelheit?«
    »Oh, wenn man einmal das Vorurteil überwunden hat, daß Dunkelheit nicht nur die Abwesenheit von Licht, sondern selbst Energie ist, dann ist eigentlich alles ganz einfach«, hörte ich mich zu meinem eigenen Erstaunen fachsimpeln. »Man muß nur lernen, Licht und Dunkelheit als gleichberechtigte Energiequellen zu behandeln.«
    »Genau das ist das Problem«, hakte Nachtigaller ein. »Es liegt daran, daß die Dunkelheit so einen schlechten Ruf hat! Sie wird immer mit unangenehmen Dingen verbunden, dabei ist sie einfach nur eine andere Form von Beleuchtung — nur dunkler eben! Wir brauchen sie genauso nötig wie das Licht. Ohne Dunkelheit würde alles verdorren, es gäbe keinen Schlaf, keine Erholung. Ohne Finsternis gäbe es keine Energie, kein Wachstum. Die Nacht gibt uns die Kraft, den Tag zu überstehen. Hast du dir schon einmal überlegt, wieso man sich morgens, nach einer durchschlafenen Nacht, so frisch und energiegeladen fühlt?«
    »Ehrlich gesagt noch nicht...« Beschämend. Ich beschäftigte mich mit den letzten Fragen der Philosophie, aber diese simple Frage hatte ich mir noch nicht gestellt.
    »Es liegt an der Dunkelheit, die man getankt hat. So ein Nickerchen am Tage bringt gar nichts, danach fühlt man sich eher noch schlapper als vorher, stimmt's? Ja, Dunkelheit ist pure Energie. Im Laufe des Tages verliert man diese Reserven wieder, man brennt aus, wird müde und muß wieder schlafen. In der Finsternis sammelt man wieder neue Kraft. Naja, und so weiter ... Ich bin sicher, daß man, wenn man nur nachts leben würde, niemals sterben müßte.«
    Man konnte den Eindruck bekommen, Professor Nachtigaller redete von sich selbst. Er war völlig erregt. Seine glühenden Augenbälle quollen ihm aus den Höhlen wie Luftballons aus flüssigem Eisen. Nachtigaller wurde noch

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