Die 13 1/2 Leben des Käptn Blaubär
wohlmeinenden Leser zu verlieren, aber ich bin nun mal der Wahrheit verpflichtet und kann nichts anderes berichten: Ich plumpste genau aus demselben Dimensionsloch wieder heraus, in das ich hineingefallen war. Das war bei allen denkbaren Möglichkeiten des Universums nicht nur die unwahrscheinlichste, sondern auch die unangenehmste Stelle, denn bei diesem Loch wartete die Waldspinnenhexe auf mich. Und meine Chancen, ihr zu entkommen, hatten sich durch den Sturz nicht erhöht, sondern drastisch verringert. Zu der ganz normalen Erschöpfung kamen jetzt auch noch die Strapazen eines Dimensionslochsturzes hinzu.
Mein Dasein zwischen den Dimensionen war jedenfalls beendet. Schwer zu sagen, ob es das längste oder das kürzeste meiner bisherigen Leben war. Vielleicht sogar beides.
Aber da war keine Waldspinnenhexe.
Und es war auch nicht mehr, wie zum Zeitpunkt meines Sturzes, tiefschwarze Nacht, sondern heller Tag.
Es wäre ja auch ein wirklich unmöglicher Zufall gewesen, wenn ich auch noch zum gleichen Zeitpunkt wieder aus dem Dimensionsloch herausgepurzelt wäre. Das war dann auch die ganz einfache Erklärung für die Abwesenheit der Spinne: Ich war zu einer anderen Zeit herausgefallen. Es war jetzt vielleicht ein anderer Tag, Eine andere Woche. Ein änderet Monat. Ein Jahr, hundert Jahre später. Oder eine Million Jahre früher, jeder Zeitpunkt der Geschichte war möglich.
Wichtig war nur, daß die Spinne weg war. Vielleicht war sie zurück in den Wald gekrochen, um zu verhungern. Vielleicht war sie zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht geboren. Vielleicht war sie auch hinter mir in das Dimensionsloch gefallen und segelte nun durch den Weltraum. Bestenfalls verkochte sie gerade in einem urzeitlichen Teersumpf oder wurde von noch schrecklicheren Ungeheuern als sie selbst in der Zukunft aufgefressen.
Aber man soll nicht nachtragend sein. Es war nicht sehr wahrscheinlich, aber immerhin denkbar, daß sie sogar in die Dimension zurückgefunden hatte, aus der ihre Vorfahren nach Professor Nachtigallers Theorie gekommen waren.
Das Universum steckt voller Möglichkeiten.
Trotzdem machte ich mich sofort auf, diesen unheimlichen Wald zu verlassen. Der Baumbestand wurde bald immer karger, nach einer knappen Stunde hatte ich den Waldsaum erreicht. Es war, als öffnete sich ein Vorhang und gäbe den Blick frei auf eine neue Welt: Ich sah hinab auf eine weiße, scheinbar unendliche Ebene, deren Horizont sich zwischen Himmel und Erde verlor. So weit das Auge schaute, konnte ich keinen einzigen Baum und auch keinen Berg ausmachen, was meines Erachtens in Ordnung war, nach all den schlechten Erfahrungen, die ich bisher mit Bergund Baumlandschaften gesammelt hatte.
An einem Waldquell füllte ich noch meine völlig erschöpften Wasservorräte auf, ich trank minutenlang, gierig und geräuschvoll. Dann lief ich über verdorrtes Gras einen Hü- gel hinunter, bis ich zum Anfang der großen Ebene kam. Der Boden bestand aus sehr feinem weißen Sand, klebrig und nach Vanille duftend. Ich steckte einen Finger hinein und kostete davon. Es war feingemahlener Zuckerstaub. Das mußte die »Süße Wüste« sein, von der ich in Nachtigallers Unterricht gehört hatte. Irgendwo ganz hinten, am anderen Ende der Wüste, mußte Atlantis liegen. Dort wollte ich hin.
Bevor ich mich auf solch einen Ungewissen und sicherlich entbehrungsreichen Marsch begeben konnte, brauchte ich erst mal eine große Mütze Schlaf. Ich legte mich einfach der Länge nach in den weißen, weichen Zuckersand. Die Sonne schien zwar noch, aber das spielte bei meiner Erschöpfung keine Rolle. Während ich langsam wegdämmerte, dachte ich über meine etwas ungewöhnliche Lebenssituation nach und versuchte abzuwägen, ob sie als gut oder schlecht zu erachten sei.
Ich wußte nicht einmal, ob ich mich in der Zukunft, der Vergangenheit oder Gegenwart befand. Nur zwei Dinge waren sicher. Erstens: Ich war in meiner heimatlichen Dimension. Zweitens: Ich befand mich in Zamonien. Das war immerhin erfreulich. Außerdem hatte ich mit niemandem eine Verabredung. Meine Vergangenheit lag hinter, meine Zukunft vor mir, und in keiner Richtung hatte ich irgendwelche Verpflichtungen. Also war es doch wohl ziemlich gleichgültig, welches Datum wir hatten.
Mit diesem tröstlichen Gedanken schlief ich ein.
9.
Mein Leben
in der
Süßen Wüste
Aus dem
»Lexikon der erklärungsliedürftigen Wunder,
Daseinsformen und Phänomene Zamoniens und
Umgebung«
von Prof. Dr. Abdul Nachtigaller
Süße
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