Die 13 1/2 Leben des Käptn Blaubär
umständlicher als nötig zu machen, werde ich ab hier die fatamorganische Sprache übersetzen. Nachdem ich einmal wußte, wie es ging, war es eigentlich ganz einfach. Der Mann hatte gesagt:
»Ich bin ein Fatom. Du brauchst keine Angst zu haben. Wir sehen zwar etwas gruselig aus, haben aber eigentlich keine gespenstischen Absichten. Ich meine Erschrecken und solche Sachen.«
Ein Fatom? Von Phantomen hatte ich schon in Nachtigallers Unterricht gehört, Fach Gralsunder Dämonologie, aber von Fatomen wußte ich nichts.
Aus dem
»Lexikon der erklärungsbedürftigen Wunder,
Daseinsformen und Phänomene Zamoniens und
Umgebung«
von Prof. Dr. Abdul Nachtigaller
Fatom, das: Transluzide Daseinsform aus der Familie der Ruhelosen Geistwesen ohne Todesursache. Ist nur in halbstabilen Fata Morganas zu finden, besteht zum größten Teil aus reflektiertem Licht, gefrorenem Zuckerdampf und gasförmig verdünnter Seelenessenz.
Wie im Absatz über halbstabile -> Fata Morganas schon erwähnt, schmilzt bei Temperaturen über 160 Grad Celsius der Zuckerstaub der Süßen Wüste [->Zuckerschmelze, die], beginnt zu kochen und läßt dabei feinen Zuckerdampf aufsteigen. Wenn die Lufttemperatur in diesem Augenblick stark abfällt [etwa durch plötzliche Fallwinde], erhärtet sich der Zucker mitten in der Luft, und falls zusätzlich das Bild einer real existierenden Oasenstadt auf die kristallisierenden Zuckermoleküle fällt, kann sich das Stadtbild fest darauf einbrennen. Dasselbe kann mit den Lebewesen geschehen, die sich in so einer Stadt befinden. So entstehen die sogenannten Fatome. Im Gegensatz zu herkömmlichen Gespenstern sind die Fatome nicht die Geister von Toten, sondern von Existenzformen, die durchaus noch am Leben sein können.
Die Vorstellung, daß ich es hier nicht mit dem Geist eines Toten zu tun hatte, machte mir meinen durchsichtigen Gast auf Anhieb sympathischer.
Fatom, das [Forts.]: Fatome dürfen zu den bedauernswertesten der zamonischen Geistformen gezählt werden. Sie verfolgen keinen direkten Zweck wie etwa das Verängstigen oder Begruseln von lebendigen Daseinsformen. Sie gewinnen auch kein Vergnügen aus ihrer Existenz wie Polteroder -> Klabautergeister. Sie sind lediglich dazu verdammt, die Tätigkeit, die sie im Entstehen der halbstahilen ->Fata Morgana verrichtet haben, auf alle Zeiten zu wiederholen.
Jetzt wurde mir einiges klar. Die Fatome bevölkerten immer noch Anagrom Ataf, hielten sich aber seit unserem taktlosen Eindringen versteckt. Mein Hausgeist hatte beim Entstehen von Anagrom Ataf Kartoffelbrei gekocht und mußte das jetzt immer wieder tun. In den anderen Häusern muß- ten sich ähnliche Dinge abspielen. Wir waren tatsächlich nicht allein in der Stadt.
Das Fatom versuchte mir die Sache zu erläutern: »Seitdem ihr hier seid, ist nichts mehr so wie vorher. Wir fürchten uns. Das ist nicht richtig. Eigentlich solltet ihr diejenigen sein, die sich vor uns fürchten.«
Das Fatom seufzte und schaufelte einen Löffel Kartoffelbrei in seinen Mund. Ich konnte sehen, wie sich der Brei in seinem Rachen verengte und als dünner Fluß die Speiseröhre herabrutschte, wie durch einen durchsichtigen Strohhalm. Den restlichen Verdauungsvorgang verbarg der gnädige Küchentisch vor meinen Blicken. Ich war auch wirklich nicht erpicht darauf zu sehen, was ein Fatommagen mit Kartoffelbrei anstellt.
Das Fatom erzählte mir alles über das Leben in Anagrom Ataf. Es erklärte mir auch, daß in dieser Stadt nichts wirklich existiert, aber auch nichts wirklich verschwindet. Jeder Apfel, den man ißt, wird über kurz oder lang wieder auftauchen. Das war auch der Grund, warum die Lebensmittel nicht sättigten: Man hatte sie zwar gegessen, aber bevor man sie verdauen konnte, waren sie schon wieder da, wo man sie weggenommen hatte.
Die Fatome führten, bevor wir sie aus dem Rhythmus gebracht hatten, ein Leben in ständiger Wiederholung. Ein Briefträger brachte immer wieder denselben Brief, ein Obsthändler füllte immer wieder seinen Marktstand auf, irgendwo vergoß irgend jemand immer wieder dasselbe Glas Milch. Leute grüßten sich auf der Straße zum millionsten Mal, ein Blumentopf fiel von der Fensterbank, immer und immer wieder. Eine Frau fegte in alle Ewigkeit ihre Türschwelle, ein Mann hämmerte seit hundert Jahren denselben Nagel in die Wand - so lebte man in Anagrom Ataf.
Was für ein Nichtfatom furchtbar klingt, war für Fatome das normale Leben. Sie waren zufrieden mit ihren immer wiederkehrenden
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