Die 13. Stunde
unversehrt und stand an diesem warmen Sommerabend weit offen. Marcus trat hindurch, überquerte die Veranda und setzte sich neben Nick. Die Farbe war aus seinem Gesicht gewichen, und er zitterte.
»Die Bullen kommen.« Marcus bekam die Worte kaum über die Lippen. »Aber wegen des Flugzeugabsturzes können sie nur zwei Mann entbehren, alle anderen sind an der Absturzstelle. Sie sagten, wir sollen nichts anrühren. Und sie halten es für das Beste, wenn du bei mir bleibst.«
Nick nickte, den Blick auf das Haus auf der anderen Seite des Rasens gerichtet, in dem Julias Leiche lag.
Er griff in die Tasche, holte die goldene Uhr hervor und klappte sie auf. Obwohl er damit gerechnet hatte, versetzte es ihm einen Schock, als er sah, dass sie wirklich und wahrhaftig zwei Minuten nach neunzehn Uhr anzeigte – zwei Stunden vor dem Moment, in dem er die Sekunden bis einundzwanzig Uhr heruntergezählt hatte. Die Polizisten waren nicht im Haus, denn sie hatten den Tatort noch gar nicht erreicht. Marcus hatte gerade erst Julias Leiche gesehen und war von ihrem grauenhaften Tod bis ins Mark erschüttert.
Nick begriff, dass er sich zwar erinnerte, was gerade geschehen war, wobei es jedoch in der Zukunft lag. Marcus wusste noch gar nichts von Nicks Verhaftung; er kannte weder die Namen der Kriminalbeamten, noch ahnte er, welches Schicksal den Türen seines Hauses bevorstand.
Für Nick kristallisierten sich allmählich die Regeln des Spiels heraus: Während dieser Tortur ergab sich nur für ihn ein zeitlicher Zusammenhang, für niemanden sonst. Er war auf sich allein gestellt und musste bis zu jeder vollen Stunde sein Ziel erreichen, ehe er dorthin zurückversetzt wurde, wo er sich zwei Stunden zuvor befunden hatte. Dabei verlor er jede Hilfe und jede Unterstützung, die ihm in der vergangenen Stunde möglicherweise zuteilgeworden war.
Er war froh, dass Freitag war, denn an Freitagen arbeitete er stets zu Hause, und er hatte den ganzen Tag am Schreibtisch gesessen, um die Analyse seiner Geschäftsreise noch vor dem Wochenende fertigzustellen. Nicht einmal zum Mittagessen war er weggegangen – ein glücklicher Zufall, weil er damit sicher wusste, dass jeder Zeitsprung ihn nach Hause zurückbrachte. Auf diese Weise lenkte ihn nichts von der Untersuchung des Mordes und der Rettung Julias ab.
Nick schloss die Taschenuhr, steckte sie weg, löste sich aus seinen Gedanken und stand auf.
»Wo willst du hin?«, fragte Marcus.
Nick starrte auf sein Haus. »Ich muss da rein.«
»Du willst zurück?«, fragte Marcus entsetzt. »Ich glaube, das ist keine gute Idee.«
»Das glaube ich auch«, sagte Nick, »aber ich muss herausfinden, was passiert ist, bevor die Polizei überall herumschnüffelt.«
»Aber wir sollen nichts anrühren.«
»Meine Frau ist tot, Marcus. Ich brauche Antworten. Ich muss wissen, wer es getan hat. Es ist mein Haus, und ich kann hinein, wann ich will.«
Marcus nickte widerstrebend. »Also gut. Ich komme mit.«
Nick schüttelte den Kopf. »Nein. Das muss ich allein tun.«
Nick hatte den Großteil der letzten Stunde – oder der übernächsten Stunde, wenn er es genau bedachte – darauf verwendet, Marcus seine Lage zu verdeutlichen; dann hatte er ihn als Beweis für seine hellseherischen Fähigkeiten zu Dance geschickt. Wenn Nick von Marcus oder jemand anderem Hilfe erhalten wollte, musste er einen Weg finden, den Betreffenden innerhalb von fünf Minuten von der Realität seines Zeitsprungs zu überzeugen, sonst verlor er zu viel von den zwölf Stunden, die er hatte, um Julia zu retten.
Es war absurd, verrückt, nicht zu begreifen.
Marcus blieb auf der Verandatreppe sitzen, während Nick bereits zum Haus ging. »Tu was du willst, aber sieh dir Julia nicht an!«, rief er ihm nach. »Das ist nicht mehr sie.«
Marcus’ Stimme verhallte, als Nick über den weiten Rasen stapfte, wobei er gegen seine widerstreitenden Gefühle ankämpfte. Ihm war etwas geschenkt worden, was er nicht verstand, und er wollte keine Zeit damit vergeuden, darüber nachzudenken. Eine innerliche Debatte darüber, wie es geschah und warum, konnte ein Leben lang dauern, und er hatte nicht einmal mehr zwölf Stunden.
Doch trotz des Hochgefühls, dass er eine zweite Chance erhielt – dass Julia eine zweite Chance erhielt –, fürchtete Nick sich vor dem, was er vorfinden würde.
Obwohl er wusste, was er zu sehen bekam, müsste er Julia jetzt willentlich anschauen, egal, wie schwer es ihm fiel, und egal, wie sehr der Anblick ihm
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