Die 13. Stunde
zurückzog.
Marcus überkam ein Gefühl der Verwirrung, als er nun auf den schwarzen Leichensack starrte, in dem Julia lag. Aber das war es nicht, was ihm den Atem verschlug. Denn als sein Blick nun wieder auf Dance fiel, der soeben die Bahre durch die Tür schob, sodass seine rechte Hand sichtbar wurde, sah Marcus, dass der rechte Ringfinger verstümmelt war und ab dem zweiten Gelenk fehlte.
Nick hatte sich nicht gerührt. Noch immer saß er im Ledersofa in Marcus’ Bibliothek. Er hatte den Brief nun schon dreimal gelesen. Seine Gedanken waren überschwemmt von lähmender Verwirrung. Den Worten, die der Europäer niedergeschrieben hatte, schien jede Logik abzugehen. Genauso wenig konnte Nick sich erklären, wie er hierherkam. Er war nie abergläubisch gewesen und glaubte weder an das Übernatürliche noch an Mythen, Legenden oder UFOs. Er glaubte nicht an die Macht von Glückspfennigen, von Hasenpfoten, von Freitag dem 13. oder von zerbrochenen Spiegeln. Doch er wäre gerne zum Befürworter sämtlicher Omen, Glücksboten und Verschwörungstheorien geworden, hätten sie ihm Julia zurückgebracht.
Er erhob sich, ging in der Bibliothek auf und ab und betrachtete die Bilder auf den Regalen. In Marcus’ Vergangenheit gab es keine Beständigkeit, keine Stabilität. Mehrere Rahmen enthielten Bilder von Sheila; die meisten anderen waren leer, als wollte Marcus die Erinnerungen an seine früheren Ehefrauen auf diese Weise tilgen. Schließlich fiel Nicks Blick auf ein Foto von sich und Julia, Arm in Arm mit Marcus. Sie alle lächelten. Nick erinnerte sich nicht, welche aus der Schar der abgelegten Damen des Hauses das Bild geknipst hatte, und es interessierte ihn auch nicht besonders. Es war eine schöne Zeit gewesen, eine Zeit vor dem Mord, vor dem Flugzeugabsturz, in der sie ihr Glück als eine Gabe betrachtet hatten, die ihnen für immer gehören würde …
Nick riss den Blick vom Foto los, um nicht wieder von Trauer übermannt zu werden. Stattdessen schaute er aus dem Fenster – und schlagartig kehrte seine Furcht zurück, als er die Detectives Shannon und Dance sah, die aus seinem Haus kamen und dem weißhaarigen Gerichtsmediziner halfen, die Bahre mit dem schwarzen Leichensack, in dem Julia lag, in einen Kastenwagen zu laden.
Marcus stand in der Auffahrt, den Kopf gesenkt, während die Männer Julia ins Fahrzeug hoben. Als die Türen hinter ihr geschlossen wurden, wandten sich die beiden Detectives Marcus zu; dann schlenderten die drei Männer gemächlich über den weiten Rasen zwischen den Häusern.
Nick erwog, die Flucht zu ergreifen, doch er wusste nicht, wohin er sich wenden sollte, und befürchtete überdies, dass sein Schicksal dann besiegelt wäre, egal wie schnell oder wie weit er käme. Er zog die Taschenuhr hervor und öffnete sie: Sie zeigte fünf Minuten vor neun.
Erneut holte er den Brief aus der Tasche und las die unglaublichen Worte noch einmal, langsam, mit Bedacht, nahm sie in sich auf, als würde er die Bibel lesen.
Lieber Nick,
ich hoffe, von Ihrem Geist lichtet sich der Nebel, und doch hege
ich keinen Zweifel daran, dass nunmehr noch größere Unschlüssigkeit
an dessen Stelle tritt, sodass Sie sich fragen, was eigentlich
vorgeht, nachdem Sie sich an genau der Stelle wiederfanden, an
der Sie heute Abend um zwanzig Uhr gewesen sind.
Im Leben gibt es Augenblicke, die unfassbar sind und mit
denen man sich unmöglich abf inden kann: die Ungerechtigkeit
des Todes Unschuldiger, der Schmerz und die Ratlosigkeit, die
wir beim Verlust eines geliebten Menschen angesichts der Grausamkeit
des Schicksals empf inden. Nick konnte nicht anders – er blickte aus dem Fenster zum Wagen des Gerichtsmediziners, wo Julia in dem kalten schwarzen Leichensack lag.
Eine einzige selbstsüchtige Tat kann durch die Zeit widerhallen,
durch das Leben, und einen Fremden seiner Existenz berauben.
Ein geliebter Mensch kann durch die Folgen eines Augenblicks
oder eines Ereignisses zu Tode kommen, von dem er vielleicht nie
etwas wusste oder das er nie verstehen konnte. Dennoch, wenn
dieser Augenblick nie geschehen wäre, wenn er zurückgenommen
werden könnte, dann könnten die Leben, die er berührt hat,
verändert werden, abgewandelt, und jenes verloren gegangene
Leben ließe sich retten.
Sie stehen nun in einem Zimmer, in einem Augenblick, der
ihrem Gedächtnis entrissen zu sein scheint, fühlen sich vielleicht
als Opfer von Zauberei oder einer göttlichen Einmischung, doch
ich
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