Die 13. Stunde
Ader besaßen.
Vielsagend waren auch die Bilder und Souvenirs auf den Regalbrettern, die Fotos von ihrem Abschlussball, ihrer Studienzeit und ihrer Hochzeit, auf denen sie völlig andere Frisuren hatten, aber das gleiche Lächeln. Dann waren da noch die drei Dutzend Aufnahmen von ihren Reisen und Familienfeiern. Außerdem gab es Bilder von Schneeballschlachten, Albernheiten in der Fotokabine des Jahrmarkts und mit eiskrembedeckten Gesichtern, die sie beide am natürlichsten zeigten.
Nick wandte sich seinem Mahagonischreibtisch zu, schob Briefe und Aktenorder beiseite und fand sein persönliches Mobiltelefon noch in der Ladestation. Er nahm es auf und steckte es in die Tasche. Er hatte sich angewöhnt, zwei Handys bei sich zu haben: eines für private Gespräche, das andere für Geschäftsanrufe, denn er wollte beide Welten voneinander getrennt halten. Da er zu Hause gearbeitet hatte, hatte er das persönliche Handy in der Ladestation gelassen und war nun dankbar dafür, denn die Polizei hatte ihm das Geschäftshandy zusammen mit Brieftasche und Armbanduhr weggenommen, als sie ihn unter Mordverdacht zum Revier gebracht hatten.
Nick kauerte sich hin, öffnete den Schrank hinter seinem Schreibtisch und leuchtete mit der Taschenlampe auf den kleinen grünen Safe hinter dem Bücherstapel. Er hatte keinen Kratzer und zeigte auch sonst keinerlei Anzeichen, dass er aufgebrochen worden war.
Schließlich verließ Nick die Bibliothek und stieg, den Lichtstrahl der Taschenlampe voranschickend, die Treppe hinunter in den Keller. Das noch nicht ausgebaute Souterrain war sein Lieblingsplatz im ganzen Haus. Im behelfsmäßigen Fitnessraum mit Laufband, Ellipsentrainer, Fahrrad und Gewichten hielten Julia und er nicht nur ihre Körper in Form, sondern auch ihren Verstand. Ein Fitnessraum, in dem man Stress abbauen konnte, ob an Punchingballs oder durch Gewichtheben, war der beste Ort für eine geistige Entgiftung. Der alte Garderobenspiegel, der an der Wand lehnte, warf Nicks Taschenlampenlicht zurück; es brach sich im Raum, auf der Ballettstange an einer Wand und den Turnmatten auf dem Boden. Noch immer konnte er den leichten Duft von Julias Parfüm nach ihrem letzten Work-out riechen.
Der Rest des großen Raums mit den Betonwänden sollte eines Tages für Freizeitzwecke genutzt werden – als Heimkino vielleicht –, aber bis dahin würden noch Jahre vergehen. Im Augenblick diente er als Lager für Christbaumschmuck, vergessene Hochzeitsgeschenke und unsortierten Krempel, der in Umzugkartons lagerte, die an den grauen Wänden gestapelt waren.
Nick verließ den Keller, stieg hinauf in den ersten Stock, ging rasch an dem Raum vorbei, der einmal das Kinderzimmer hatte werden sollen, sowie an drei weiteren unbenutzten Zimmern, und erreichte schließlich ihr Schlafzimmer.
In dem Raum mit den cremeweiß angestrichenen Wänden und der vertäfelten Decke stand ein riesiges Himmelbett vor einem Kamin, der wie jeden Sommer mit Schnittblumen verschönt war. Nick durchsuchte Julias Nachttisch, fand in den kleinen Schubladen aber nichts Ungewöhnliches – nichts, was eilig hineingestopft worden war. Ihm fiel auch nicht auf, dass irgendetwas fehlte. Er schaute in ihren begehbaren Kleiderschrank und überprüfte seinen eigenen Schrank und das Geheimfach, das sich hinter seinem Krawattenhalter verbarg, doch auch dort schien nichts angerührt worden zu sein. Ihre beiden Bäder sahen noch genauso aus, wie sie am Morgen verlassen worden waren; Handtücher, Zahnbürsten und Toilettenartikel waren an Ort und Stelle. Im ungenutzten oberen Wohnzimmer lag ein dünner Schleier aus Staub und Pollen von den Blumen im Kamin, aber nichts wies auf einen Eindringling hin. Die Glastüren, die auf die kleine Terrasse führten, waren verschlossen, so wie am Morgen, als Julia Nick mit dem Frühstück überrascht hatte.
Während Nick von Zimmer zu Zimmer ging und nach einem Hinweis auf Julias Mörder suchte, wurde ihm klar, dass sie das perfekte Haus gebaut hatten – und doch fehlte das Wichtigste. Sie hatten sich ganz ihren Berufen gewidmet, dem Geldverdienen, hatten sich schöne Dinge angeschafft, doch das Wichtigste hatten sie versäumt: Obwohl sie einander liebten, gab es keine Kinder, die das Haus, das sie geschaffen hatten, mit Leben füllten. Während die überzähligen Zimmer auf Bewohner warteten, hatte es immer geheißen: Noch ein Jahr, dann haben wir’s geschafft. Nun erkannte Nick, dass sie immer darauf gehofft hatten, nur noch ein Jahr zu
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