Die 13. Stunde
vernehmen.
»Julia«, sagte Nick beschwörend. »Glaub mir!«
Seine Stimme und die Angst in seinen Augen überzeugten sie.
»Dann sollten wir von hier verschwinden, ehe wir in unserem eigenen Haus in der Falle sitzen«, sagte Julia. Sie klang plötzlich verzweifelt.
»Bleib hier«, sagte Nick, während er um die Kochinsel herum kroch und Julia auf dem Küchenboden zurückließ, zusammengekauert hinter dem Aufbau neben dem Herd, von den Fenstern aus nicht zu sehen. »Bleib auf dem Boden und halte dich von den Fenstern fern! Und geh nicht zur Garagentür«, beschwor er sie und verließ die Küche. Julia zog die Knie an und schlang die Arme um die Beine. Sie glaubte Nick. Er zog niemals Schlüsse, ehe er nicht sämtliche Fakten kannte, und er irrte sich selten. Julia hatte keinen blassen Schimmer, was vor sich ging, und fühlte sich wie benebelt. Noch nie hatte sie echte Todesgefahr erlebt. Sie hatte immer geglaubt, sich in Krisensituationen gut zu halten. Nun aber war sie von lähmender Angst erfüllt. Eiseskälte schien durch ihre Adern zu strömen. Ein Unbekannter machte Jagd auf sie.
Ihr sonst so nüchterner Verstand wehrte sich; ihr verkrampfter Magen schmerzte, und Entsetzen drohte sie zu lähmen – die Angst um ihr Leben und die Furcht, von Nick weggerissen zu werden. Sie konnte sich nicht auf die Fragen konzentrieren, die ihr durch den Kopf schossen, zu groß war die Panik, die sie erfasst hatte. Wichtig war nur, dass sie am Leben blieb, weiterlebte für Nick, für ihre Zukunft, die so viel versprach.
Sie hatte den ganzen Tag versucht, Nick zu erreichen und ihm von ihrer Beinahe-Begegnung mit dem Tod zu erzählen, und dass sie wie durch ein Wunder vor dem Start aus der Maschine des Fluges 502 ausgestiegen war. Normalerweise wäre sie vom Flughafen sofort nach Hause gefahren, um Nick davon zu erzählen, doch bei einem ihrer wichtigsten Mandanten war ein Problem aufgetreten, das sofort bereinigt werden musste.
Jedenfalls hatte sie immer wieder angerufen, ohne Nick zu erreichen, denn wegen des Stromausfalls funktionierten weder der Anrufbeantworter noch das schnurlose Telefon in seinem Büro. Sie hatte ihn mehrmals auf dem Handy zu erreichen versucht und Nachrichten auf der Mailbox hinterlassen, doch er hatte das Handy offenbar den ganzen Tag nicht angerührt. Wahrscheinlich wegen der Terminarbeit, sagte sie sich: Nick musste Immobilien- und Finanzinformationen auswerten und Dutzende von Jahresberichten lesen, die er auf seiner viertägigen Reise durch den Südwesten gesammelt hatte. Und er wollte den Bericht noch heute abschließen, damit er nicht am Wochenende am Schreibtisch sitzen musste. Außerdem war er bestimmt nervös, weil es keinen Strom gab, sodass er am Laptop arbeiten musste.
Hätte sie doch eher mit ihm gesprochen! Sie hatte ihm nie etwas über ihre Täuschung gesagt, ihre vorsätzliche Lüge. Sie hatte ihm die Wahrheit sagen wollen, unter vier Augen, an diesem Abend. Sie hatte es die ganze Woche hinausgezögert und bereute es nun umso mehr.
Wieder klopfte es an der Tür. Gleichzeitig klingelte das Telefon. Julia hob den Blick. Sie konnte sich denken, wer anrief: vermutlich ihr Gesprächspartner, der verärgert war, weil Nick aufgelegt hatte.
Doch jetzt hatte sie ganz andere Sorgen.
Julia ließ es klingeln. Und während sie sich verängstigt umschaute, schien der Augenblick sich zur Ewigkeit zu dehnen.
Nick schob sich in die Bibliothek und blickte aus dem Fenster. Auf das klingelnde Telefon, das ihm lauter vorkam als in der Erinnerung, achtete er gar nicht. Ein blauer Wagen stand am Ende der Zufahrt; Einzelheiten konnte Nick nicht erkennen; die Entfernung war zu groß. Er blickte hinunter zur Vordertür. Ein Mann stand dort und drehte sich lässig von links nach rechts. Er war Ende vierzig, Anfang fünfzig. Nick besaß keine Erfahrung mit Kriminellen, doch der Mann sah völlig harmlos aus: graues Haar, Hornbrille, gut hundert Kilo schwer und dabei weniger als einssiebzig groß. Eine Hand ruhte leger in der Tasche. Eine Waffe war nicht zu sehen, und der Mann machte keinen bedrohlichen Eindruck. Doch es stand außer Frage, dass jemand versuchen würde, Julia zu ermorden, und Nick wollte kein Risiko eingehen.
Er kauerte sich auf den Boden und öffnete den Schrank hinter seinem kleinen Schreibtisch. Dann schob er einen Stapel Bücher beiseite und legte den kleinen Safe frei. Er hatte ihn installieren lassen, um Julias Schmuck und ihre Pässe, ihre Besitzurkunden und andere wichtige
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