Die 13. Stunde
Nick sein Handy hervor, öffnete es und rief das Bild der toten Julia auf. Er bereute jetzt schon, das grauenhafte Foto aufgenommen zu haben; es erschien ihm wie eine Verletzung ihrer Menschenwürde, ihrer Seele. Es kam ihm beinahe so vor, als drücke er selbst auf den Abzug der Mordwaffe. Zugleich war ihm klar, dass es keinen besseren Weg gab, Marcus zu überzeugen. Er wandte den Blick ab, als er dem Freund das Handy reichte.
Marcus betrachtete das Foto. Im ersten Moment wusste er nicht, was er sah. Dann begriff er, was er sich anschaute. »O Gott … das ist ja …«, stammelte er.
Nick schwieg.
Entsetzen und Übelkeit überfielen Marcus. Sein Atem ging schneller. Er konnte den Blick nicht von dem nehmen, was einst Julias Gesicht gewesen war. Das grässliche Bild füllte das kleine Display aus.
»Was hast du getan?«, fuhr er Nick an.
Nick antwortete nicht. Seine Augen waren voller Qual.
Marcus stürmte aus dem Zimmer, riss die Haustür auf und rannte über den offenen Rasen auf das Haus der Quinns zu.
Plötzlich blieb er so abrupt stehen, dass er beinahe gestürzt wäre.
»Hi, Marcus! Jogging in Nadelstreifen?«, rief Julia. Eine warme Sommerbrise spielte mit ihrem blonden Haar.
Sie stand an der offenen Heckklappe ihres schwarzen Lexus und hob eine Leinentasche heraus.
Marcus beugte sich vor, stützte die Hände auf die Knie und rang nach Atem. Er begriff nicht, was er sah. Er begriff überhaupt nichts mehr.
»Julia«, stieß er hervor. »Alles okay?«
»Warum nicht? Mir geht es bestens«, sagte Julia lachend. Sie stellte die Tasche ab und ging auf Marcus zu. »Aber du siehst aus, als hättest du ein Gespenst gesehen.«
»Nick sagt …«
»Er ist bei dir?« Julia schaute an Marcus vorbei auf dessen Haus. »Er ist hier ganz plötzlich verschwunden … hat er dich so durcheinandergebracht?«
Marcus richtete sich auf, als Julia ihn erreichte. Er starrte sie an, als hätte er tatsächlich ein Gespenst vor sich. Das grauenhafte Bild auf Nicks Handy hatte ihn so sehr verstört, dass es ihm nun, als er Julia anschaute, trotz der dreißig Grad im Schatten eiskalt über den Rücken lief.
»Du siehst aus, als hättest du den Leibhaftigen gesehen«, sagte Julia halb im Scherz. »Soll ich dir ein Glas Wasser holen?«
Marcus schüttelte den Kopf.
»Warum bist du so schnell hierhergerannt? Stimmt was nicht?«
»Es … ich …« Marcus fehlten die Worte. Er konnte unmöglich aussprechen, was er vor zwei Minuten auf dem Handydisplay gesehen hatte.
»Hast du von meinem Beinahetod gehört?«
Marcus begriff nicht, worauf sie anspielte.
»Ich fasse es immer noch nicht«, sagte Julia. »Die vielen Opfer … Das Flugzeug ist wie ein Stein vom Himmel gefallen. Ich hatte unfassbares Glück, dass ich noch lebe. Deshalb koste ich nun jeden Atemzug aus, und ich werde das Leben nie wieder als etwas Selbstverständliches betrachten. Heute wäre ich beinahe umgekommen. Da glaubt man plötzlich an das Schicksal, Marcus.«
Als Marcus in die Bibliothek zurückkehrte, sah er aus, als hätte er einen Schlag in die Magengrube bekommen. Einen Augenblick stand er da und rang um Fassung.
»Ist das irgendein kranker Scherz?«, rief er dann zornig. »Verarsch mich nicht noch mal so!«
Nick blieb im Ledersessel sitzen und blickte den Freund kopfschüttelnd an. »Mit so etwas würde ich niemals Witze machen.«
Marcus, erschöpft und ausgelaugt, ließ sich in den anderen Sessel sinken. Zwei Minuten lang starrte er vor sich hin. Nick konnte sehen, wie es in ihm arbeitete. Schließlich schloss er die Augen und legte den Kopf in den Nacken.
»Du verlangst eine Menge, Nick. Einen gewaltigen Vertrauensvorschuss.«
»Ich weiß.« Nick blickte Marcus beschwörend an. »Es tut mir leid, dass ich dich da hineinziehe, aber du bist der Einzige, dem ich vertraue und von dem ich weiß, dass er mich nicht für verrückt hält, wenn ich ihm mit dieser Geschichte komme.«
»Siehst du auch mich in der Zukunft?«
Nick nickte. »Ja, in ein paar Stunden. Du stehst mir zur Seite. Du verteidigst mich, als man mir vorwirft, Julia ermordet zu haben.«
»Mein Gott.« Marcus legte die Hände an die Schläfen, als wollte er verhindern, dass sein Schädel explodierte. »Das ist Irrsinn!«
»Ich weiß.«
»Wie funktioniert das?«
»Das kann ich nicht erklären«, sagte Nick leise. »Und es könnte alles auch nur ein Albtraum sein. Aber ich weiß, dass Julia stirbt, wenn ich ihren Mörder nicht finde.«
»Und was tust du, wenn du ihn
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