Die 2 Chance
Schweinerei. Jill wünschte sich insgeheim, sie wäre die Staatsanwältin gewesen. Aber nirgends stieß sie auf etwas, das Marty Boxer belastet.
Wenn er an jenem Abend dort war, hat man ihn nie als Zeuge benannt.
Gegen Mittag hatte Jill sich durch den Wust von Zeugenaussagen gekämpft. Der Mord an Sikes hatte in einer Liefereinfahrt zwischen den Gebäuden A und B in der Siedlung stattgefunden. Bewohner behaupteten, sie hätten Kampflärm und die Hilfeschreie des Jungen gehört. Beim Lesen dieser Aussagen drehte sich Jill der Magen um. Coombs war die Chimäre. Er musste es sein.
Sie war müde und entmutigt. Einen halben Tag lang hatte sie die Akten durchgeackert. Sie war beinahe am Ende angelangt, als sie auf etwas Seltsames stieß.
Ein Mann hatte behauptet, den Mord von seinem Fenster im dritten Stock aus gesehen zu haben.
Kenneth Charles
.
Charles war selbst Teenager mit einem Vorstrafenregister: grober Unfug, Besitz von Drogen. Die Polizei behauptete, er habe guten Grund, Ärger zu machen.
Und kein anderer Zeuge bestätigte, was Charles ausgesagt hatte.
Beim Lesen dieser Protokolle der Zeugenaussagen bekam Jill pochende Kopfschmerzen. Sie rief die Sekretärin. »April, bitte holen Sie mir eine Personalakte der Polizei. Eine alte, von vor zwanzig Jahren.«
»Wie lautet der Name? Ich mach mich gleich auf den Weg.«
»Marty Boxer«, antwortete Jill.
Eine kalte Brise wehte von der Bucht, als Jill unten auf dem Kai vor dem BART-Terminal stand.
Es war nach sechs Uhr. Männer in blauen Uniformen, alle mit Kappen, kamen aus dem Betriebshof. Ihre Schicht war zu Ende. Jill musterte sie scharf. Sie suchte nach einem Gesicht. Vor zwanzig Jahren war er zwar zu Jugendstrafen verurteilt worden, aber danach hatte er ein ordentliches Leben geführt. In der Armee hatte man ihn ausgezeichnet. Er hatte geheiratet und arbeitete seit zwölf Jahren als Mechaniker für BART. April hatte nur wenige Stunden gebraucht, um ihn aufzuspüren.
Ein kräftiger Afroamerikaner mit schwarzer Ledermütze und einer Windjacke der 49er winkte einigen Kollegen zu und ging zu Jill. Er musterte sie misstrauisch. »Der Manager hat gesagt, Sie warten auf mich? Warum?«
»
Kenneth Charles?
«, fragte Jill.
Der Mann nickte.
Jill stellte sich vor und reichte ihm ihre Visitenkarte. Charles’ machte große Augen. »Also, wenn ich das sagen darf – es ist schon eine Ewigkeit her, seit jemand aus dem sogenannten Gerechtigkeitstempel Interesse an mir gezeigt hat.«
»Es geht nicht um Sie, Mr Charles«, antwortete Jill, um ihn zu beruhigen. »Es geht darum, was Sie vielleicht vor langer Zeit gesehen haben. Haben Sie etwas dagegen, wenn wir uns unterhalten?«
Charles zuckte die Schultern. »Können wir ein Stück gehen? Mein Wagen steht da drüben.« Er deutete auf den Parkplatz am Kai, der durch einen Maschendrahtzaun geschützt war.
»Wir haben einige alte Fälle durchgesehen«, erklärte Jill. »Und ich bin auf eine Zeugenaussage von Ihnen gestoßen. Die Anklage gegen Frank Coombs.«
Beim Klang des Namens blieb Charles abrupt stehen.
»Wie gesagt, ich habe Ihre Zeugenaussage gelesen«, fuhr Jill fort. »Und ich würde gern noch mal von Ihnen hören, was genau Sie gesehen haben.«
Kenneth Charles schüttelte entsetzt den Kopf. »Keiner hat mir damals geglaubt. Sie haben mich nicht mal zum Prozess gelassen. Punk haben sie mich genannt. Weshalb sind Sie jetzt interessiert?«
»Damals waren Sie ein vorbestrafter Jugendlicher, der zweimal einsitzen musste«, sagte Jill ehrlich.
»Das stimmt alles«, räumte Kenneth Charles ein. »Aber was ich gesehen habe, habe ich gesehen. Aber seit damals ist ’ne Menge Wasser unter der Brücke durchgeflossen. Ich stehe zwölf Jahre vor meiner Pensionierung. Wenn ich richtig gelesen habe, hat ein Mann zwanzig Jahre im Knast gesessen, wegen dem, was er an dem Abend getan hat.«
Jill schaute ihm in die Augen. »Ich schätze, ich möchte mich vergewissern, dass der richtige Mann zwanzig Jahre gesessen hat. Hören Sie, dieser Fall ist nicht wieder aufgenommen worden. Ich mache keine Festnahmen. Aber ich möchte die Wahrheit wissen. Bitte, Mr Charles.«
Kenneth Charles erzählte. Er hatte ferngesehen und Marihuana geraucht. Dann hatte er unten vor dem Fenster Lärm gehört. Gebrüll, dann erstickte Hilfeschreie. Und als er hinunterschaute, wurde dieser Junge erwürgt.
»Da waren zwei Männer in Uniform. Zwei Polizisten haben Gerald Sikes nach unten gedrückt«, sagte Charles.
Jill stockte der Atem. Damit
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