Die 2ten Chroniken von Fitz dem Weitseher 04 - Der wahre Drache
Wänden. Manchmal war unser Weg schmal, manchmal breit. Der Boden unter unseren Füßen war niemals eben. Manchmal sah es so aus, als würden wir durch einen Riss im Eis wandern, der sich gestern erst geöffnet hatte. Dann wieder hatte es den Anschein, als hätte Schmelzwasser den Weg ausgewaschen, dem wir folgten. Wenn wir an eine Abzweigung gelangten, nahmen wir stets den breiteren Weg. Oft genug verengte er sich jedoch alsbald wieder. Ich sagte dem Narren nicht, was ich fürchtete: Dass wir willkürlichen Rissen im Eis des Gletschers folgten. Wir hatten keinen Grund zu glauben, dass einer von ihnen irgendwohin führte.
Die ersten Anzeichen dafür, dass auch schon andere hier entlanggekommen waren, waren nur klein. Zunächst glaubte ich, meine Hoffnung spiele mir einen Streit. Dort, wo der Boden glatt war, fanden sich Reste von Sand. Dann wieder schien es, als wären die Wände bearbeitet worden. Schließlich roch ich etwas: frische menschliche Exkremente. Im selben Augenblick, da ich mir dessen sicher war, sagte der Narr: »Es sieht so aus, als hätte jemand Stufen ins Eis vor uns gehauen.«
Ich nickte. Es ging eindeutig nach oben, und breite, flache Stufen waren in den eisigen Boden geschlagen worden. Ein Dutzend Schritte später kamen wir an einer Kammer vorbei, die zu unserer Rechten ins Eis gebaut worden war. Ein natürlicher Spalt war zu einer Abfallgrube vergrößert worden. Doch nicht nur Abfall und Fäkalien fanden hier ihr Grab, sondern auch die Toten. Ich sah einen nackten Fuß aus der Grube ragen, auf obszöne Art blass und knochig. Darauf lag ein weiterer Leib, dessen Rippen durch die zerrissenen Lumpen zu erkennen waren. Lediglich die Kälte machte den Gestank erträglich. Ich blieb stehen und fragte den Narren im Flüsterton: »Denkst du, wir sollten weitergehen?«
»Das ist der einzige Weg«, antwortete er mit zitternder Stimme. »Wir müssen ihm folgen.«
Er starrte unverwandt auf die achtlos hingeworfenen Leiber. Er zitterte wieder. »Ist dir noch immer kalt?«, fragte ich. In den hellen Gängen kam es mir ein wenig wärmer vor als in der Dunkelheit. Das Licht schien aus ihrem Inneren zu kommen.
Der Narr lächelte mich gespenstisch an. »Ich habe Angst.« Er schloss die Augen für einen Moment und drängte die Tränen hinter die goldenen Lider zurück. Dann sagte er mit festerer Stimme: »Und weiter geht's.« Er trat an mir vorbei, um die Führung zu übernehmen, und ich folgte ihm voller Furcht.
Wer auch immer dafür verantwortlich war, hier die Nachttöpfe zu leeren, war ein äußerst sorgloser Mensch. Überall waren Flecken und Spritzer auf den eisigen Wänden zu sehen. Je weiter wir kamen, desto offensichtlicher wurde es, dass die Gänge von Menschenhand bearbeitet worden waren. Schließlich entdeckten wir auch die Quelle des blauen Lichts: eine blassblaue Kugel über uns. Sie war größer als ein Kürbis und strahlte Licht aus, aber keine Wärme. Ich blieb stehen und starrte zu ihr hinauf. Als ich dann die Finger neugierig nach ihr ausstreckte, packte der Narr mich am Ärmel und zog meine Hand wieder nach unten. Warnend schüttelte er den Kopf.
»Was ist?«, fragte ich leise.
Er zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht. Aber ich weiß, dass sie ihr gehört. Fass die Kugel nicht an, Fitz. Komm. Wir müssen uns beeilen.«
Und das taten wir auch eine Zeit lang ... bis wir das erste Verlies erreichten.
Es heißt, dass einst eine Seherin oder ein Orakel auf der Insel Aslevjal beheimatet war. Diese Geschichte scheint sehr, sehr alt zu sein. Manche erzählen, dass es nur eine solche Seherin gegeben und dass sie viele Generationen gelebt habe, aber jung geblieben sei, mit rabenschwarzem Haar und schwarzen Augen. Andere wiederum sagen, es habe ein Mütterhaus von Orakeln gegeben, mit einer Großen Mutter, die ihre Pflichten als Seherin jeweils an die älteste Tochter weitergegeben habe, die ihre Nachfolgerin wurde. Überall heißt es, all diese Frauen hätten ihren Tag der Großen Mutter weit überlebt. Allerdings kann kein Lebender das mehr bezeugen. Es heißt, die Seherin habe tief im Gletscher gelebt und sei nur herausgekommen, um die Opfergaben entgegenzunehmen, die Besucher Eisfeuer darboten. Brachte ein nach Wahrheit Suchender Tiere als Gabe, übernahm die Seherin das Schächten, warf dann die Eingeweide in die Luft und ließ sie dampfend aufs Eis fallen. Die Zukunft des Bittstellers stand in den auf dem Boden ausgebreiteten Innereien geschrieben. Nach dem Orakel im Namen des
Weitere Kostenlose Bücher