Die 39 Zeichen 06 - Gefahr am Ende der Welt
Leder. Ihre Mutter hatte diese Jacke ausgesucht, hatte sie getragen. Amy hätte sie am liebsten an sich gedrückt und ihr Gesicht darin verborgen, doch das wäre zu peinlich gewesen.
Shep schlug das Buch auf. »Das ist mein Logbuch aus jenem Jahr. Mal sehen …« Er begann zu blättern. »Dachte ich es mir doch. Sie haben mir einen Reiseplan gegeben, nur für alle Fälle, sagten sie. Hier.« Er hatte einen Zettel in der Hand. Amy erkannte
sofort die saubere Schrift ihrer Mutter und die lila Tinte, die sie gern benutzte.
Miami
Kalkutta
Natal
Rangun
Dakar
Bangkok
Khartum
Singapur
Karatschi
Darwin
»Da sind sie überall gewesen?«, staunte Amy.
»Weltreise, nehme ich an«, sagte Shep.
Dan sah ihm von hinten über die Schulter. »Warum ist Sydney nicht dabei? Und Adelaide?«
»Wahrscheinlich waren die Ausflüge gar nicht geplant und waren nur zum Spaß«, mutmaßte Shep grinsend.
Amy deutete auf das Wort Miami. »Jetzt weiß ich es wieder! «, rief sie. »Auf den ersten Teil der Reise haben sie uns mitgenommen. Wir haben in einem Hotel am Strand gewohnt. Dan, du warst damals vielleicht drei und Grace war auch dabei. Ich weiß noch, dass ich furchtbar geweint habe, als sie ohne uns weitergereist sind. Ich dachte, ich würde sie nie wieder sehen …«
Amys Stimme verlor sich. Sie sah sich selbst als Sechsjährige, heulend, als hätte ihr jemand das Herz gebrochen und allein zurückgelassen. Sie hatte sich an Grace’ Hand geklammert und einen Riesenschreck bekommen, als sie bemerkte, dass auch Grace weinte. Grace weinte nie. Sie standen im
Hotelfoyer und sahen durch die Glastüren, wie ihre Eltern in ein Taxi stiegen. Amy erinnerte sich an das Glas, denn es verhinderte, dass ihre Mutter sie hörte, egal, wie sehr sie auch weinte.
»Daran kann ich mich nicht erinnern«, flüsterte Dan.
»Nein, du warst noch zu klein«, sagte Amy. »Sie waren lange weg – ich meine, es kam mir lange vor, wahrscheinlich war es etwa ein Monat. Grace blieb in der Zeit bei uns.«
Amy sah plötzlich vor sich, wie Grace am Fenster saß und hinaus in den Garten blickte. Ihre Großmutter hatte beunruhigt gewirkt. Amy schien es damals, als ginge es Grace genau so wie ihr – als fühlte Sie sich einsam und fürchtete sich. Sie war auf Grace’ Schoß geklettert und ihre Großmutter hatte ihr Gesicht in Amys Haaren versteckt und geflüstert: »Sie sind bald wieder da.«
Hatte Grace nur Amy oder auch sich selbst damit Mut machen wollen? Hatte sie genau so viel Angst gehabt wie ihre Enkelin?
Bestimmt waren ihre Eltern auf einer Cahill-Mission. Das war keine Vergnügungsreise. Sie hätten Dan und Amy niemals so lange allein gelassen, wenn es nicht unbedingt nötig gewesen wäre. Dessen war sich Amy hundertprozentig sicher.
»Ich war überrascht, als Arthur Professor wurde«, sagte Shep. »Das hätte ich nie von ihm erwartet.«
»Wie meinst du das?«, fragte Dan. »Was hast du denn gedacht, welchen Beruf er sich aussuchen würde?«
»Löwenbändiger«, antwortete Shep und stellte seine leere Tasse scheppernd auf den Tisch. Er grinste. »Akrobat, Profirennfahrer, Buschpilot wie ich.«
Dan bog sich vor Lachen. »Du machst wohl Witze.«
»Als wir noch Kinder waren, war Artie ein echter Draufgänger«, erzählte Shep. »Er hat mich zu allem möglichen Unsinn angestachelt. Er hat zum Beispiel einen Hinderniskurs für unsere Fahrräder aufgebaut. Hat einen Turm aus Kisten gestapelt, von dem aus wir in den See gesprungen sind. Und einmal haben wir eine Rutsche vom Garagendach gebaut. Artie hatte immer die besten Ideen.«
»Dad?« Dans Stimme quietschte fast. »Klasse!«
Amy sah ihren Bruder von der Seite an. Mit glitzernden Augen saß er kerzengerade auf seinem Stuhl. Er war immer so glücklich, wenn er über seinen Vater sprechen konnte. Warum machte es sie so traurig?
Wenn man seine Eltern verliert, geht die Traurigkeit nie ganz weg. Sie verändert sich nur. Manchmal trifft sie einen von der Seite statt von vorn. Wie jetzt. Völlig unerwartet war es Amy plötzlich zum Heulen, als sie hörte, dass ihr Dad als Kind ein Draufgänger gewesen war – genau wie Dan.
»Allerdings war euer Dad klüger als ich. Er machte seine Hausaufgaben. Außerdem mochte er Rätsel und knobelte gerne. Als ich nach Hawaii zog und die Wellen entdeckte, war es um mich geschehen und Schule wurde zur Nebensache.« Ihr Onkel grinste sie fröhlich an. »Lange Zeit bin ich um die Welt gereist. Bis ich hier in Oz gelandet bin.«
»Klasse«, wiederholte Dan. Amy
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