Die 500 (German Edition)
betrachtete, den tiefen Ausschnitt, der unter dem weiten Kragen des Sweatshirts zu sehen war.
»Reine Logik?«, fragte ich.
»Na ja, vielleicht habe ich noch ein paar andere Talente angewandt«, sagte sie mit einem durchtriebenen Lächeln. »Kann nicht schaden, wenn man ein paar Pfeile mehr im Köcher hat.«
Sie beugte sich zu mir herüber, richtete sich etwas auf und zog die Knie auf die Couch. Der Hosenbund lag locker auf ihrer Hüfte. Mein Blick kroch über ihren Bauch abwärts, weiter nach unten, an den Rundungen und Schatten ihrer Oberschenkel entlang: gefährliches Terrain.
»Ergibt das Sinn?«, fragte sie. »Ein Mann, der alles zu entscheiden hat? Eine einzige zentrale Figur?«
»Möglich«, sagte ich. Sie forcierte nichts, rührte in keiner Weise an der Illusion, dass diese ganze Geschichte mehr Flirt als Verhör war. Ihre Hand verharrte kurz oberhalb meines Knies und bewegte sich dann weiter meinen Oberschenkel hinauf. Ihre braunen Augen näherten sich den meinen, dann wandte sie sich leicht zur Seite. Nur ein Küsschen. Fast unschuldig. Ihre Hand rutschte höher, ihre Brüste drückten gegen meinen Körper, ihre Lippen berührten meine Schläfe.
Ein Verlangen, das tiefer und stärker war als jede Willenskraft, die mein Verstand aufbringen konnte, zog mich zu ihr hin.
Gern würde ich glauben, dass es an meiner Liebe zu Annie lag oder daran, dass ich so ein anständiger Bursche bin. Aber ich bin mir nicht sicher.
Vielleicht war nur ein elementarer Selbsterhaltungstrieb am Werk. In Kolumbien hatte sie es mit der direkten Flittchen methode probiert, und weil das nicht klappte, zielte sie jetzt mit dieser romantischen Freundinnen-Nummer auf meine Schwachstelle. Ich wusste nicht, für wen sie arbeitete, aber sie war gefährlich. Mit dem Diebstahl des abgehörten Telefongesprächs hatte ich jetzt selbst eine gefährliche Information in der Hand. So viel ich mir auf meine Willensstärke und Verschwiegenheit einbildete, so sicher war ich mir, dass es sich als schädlich für meine Gesundheit herausstellen würde, wenn ich sie jetzt vögelte.
Ich konnte nicht glauben, was dann geschah. Es war wie in einem Traum. Als hätte ich neben mir gestanden und mir selbst zugeschaut: Ich fasste sie an den Schultern und schob sie zurück. Sie schaute mich an. Ich atmete tief durch, bedankte mich für die Drinks und stand auf.
»Bis später mal«, sagte ich und ging.
Irin hatte mir zwei Hinweise gegeben – dass ihr Vater befürchtete, des Landes verwiesen zu werden, und dass eine einflussreichere Macht als der Kongress in seinen Fall verwickelt war. Ich hatte ihr keinen Hinweis gegeben. Ich war froh, unversehrt davongekommen zu sein.
Einstweilen behielt ich weiter Marcus im Auge. Immer wenn er mit seinem Jagdgesicht das Büro verließ, rief ich die Restaurants an, die er unter seinen Decknamen besuchte, und erkundigte mich nach Reservierungen. Als ich schon fast glaubte, dass meine ganze Telefoniererei sinnlos sei, landete ich am folgenden Dienstag einen Treffer.
»Ja, Mr. Matthews. Wir haben eine Reservierung für Sie, 13 Uhr 30, für zwei Personen im Separee«, sagte mir der Oberkellner am Telefon. Er hatte einen leichten Akzent, chinesisch vielleicht.
Fast hätte ich gesagt: »Ernsthaft? Kein Scheiß?« Ich hatte schon fast jede Hoffnung aufgegeben und war richtiggehend schockiert, dass es geklappt hatte. Ich wusste jetzt, wohin Marcus zu einer seiner geheimnisumwitterten Lunchpausen ging.
Ich nahm mich zusammen, sagte: »Hervorragend, danke«, und machte mich auf den Weg ins Prince George’s County, um mir anzuschauen, was genau Marcus im Schilde führte. P G County, wie Leute aus D C die Gegend nennen und wofür die Leute aus P G County sie hassen, ist für Yuppies aus Washington im Wesentlichen Terra incognita. Die typische Sichtweise für Hauptstadt-Yuppies ist die, dass P G lediglich einen Auswuchs des größtenteils von armen Schwarzen bewohnten südöstlichen Quadranten von D C nach Maryland bildet. Es ist also der allerletzte Ort auf Erden, an dem man einen Mann wie William Marcus vermuten würde. Und das war genau der Punkt.
Das Restaurant befand sich in einem Einkaufszentrum zwischen zahllosen koreanischen Lebensmittelläden. Ein Schild im Fenster machte Werbung für Karaoke-Studios. Tuck, der in DCs Außenbezirken ständig auf der Suche nach authentischem Essen war, hatte mir mal von dem Laden erzählt. Das Essen war angeblich fantastisch. Trotzdem konnte ich es nicht riskieren, dass Marcus mich
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