Die 6. Geisel - Thriller
hatte Mühe, dem Mann zu folgen; er weinte und verlor immer wieder den Faden, sodass er Cindy fragen musste, was er gerade gesagt hatte.
»Sie trug einen blauen Mantel«, half Cindy ihm auf die Sprünge.
»Richtig. Einen dunkelblauen Mantel, einen roten Pulli, blaue Hose und rote Schuhe.«
»In einer Stunde haben Sie den Text«, sagte Cindy. »Und bis dahin werden Sie auch von diesen Mistkerlen gehört haben und wissen, wie viel Sie zahlen müssen, um Maddy wiederzubekommen. Sie werden sie wiederbekommen.«
Cindy verabschiedete sich vom Mitherausgeber der Chronicle und legte den Hörer auf. Dann saß sie einen Moment lang reglos da, die Finger um die Armlehnen ihres Stuhls gekrampft. Ihr war schlecht und schwindlig vor Angst. Sie hatte schon genug Artikel über Kindesentführungen geschrieben, um zu wissen, dass die Chancen, das Mädchen lebend zu finden,
um rund die Hälfte sanken, wenn sie heute nicht gefunden würde. Und noch einmal um die Hälfte, wenn man sie morgen auch nicht fände.
Sie dachte an ihre letzte Begegnung mit Madison zurück. Es war im Frühsommer gewesen, als das kleine Mädchen mit ihrem Vater in die Redaktion gekommen war.
Vielleicht zwanzig Minuten lang hatte Madison sich auf dem Stuhl gegenüber von Cindys Schreibtisch hin und her gedreht, auf einem Stenoblock herumgekritzelt und so getan, als sei sie eine Reporterin, die Cindy über ihre Arbeit befragte.
»Warum heißt es eigentlich › Deadline ‹? Kriegen Sie auch manchmal Angst, wenn Sie über Gangster berichten? Was ist die doofste Geschichte, die Sie je geschrieben haben?«
Maddy war ein entzückendes Kind, witzig und natürlich, und Cindy war richtig traurig gewesen, als Tylers Sekretärin zurückgekommen war und gesagt hatte: »Komm, Madison, Miss Thomas hat zu tun.«
Cindy hatte dem Kind spontan einen Kuss auf die Wange gedrückt und gesagt: »Du bist so süß wie zehn Zuckerschnecken, weißt du das?«
Und Madison hatte ihr die Arme um den Hals geschlungen und den Kuss erwidert.
»Bis bald, du Starreporterin!«, hatte Cindy ihr nachgerufen, und Madison Tyler war herumgewirbelt und hatte gegrinst.
»Das werde ich bestimmt mal!«, hatte sie erwidert.
Jetzt starrte Cindy den leeren Computerbildschirm an, und tausend quälende Fragen bestürmten sie. Madison wurde von Menschen, die sie nicht liebten, gefangen gehalten. Lag sie vielleicht in diesem Moment gefesselt im Kofferraum eines Autos? War sie sexuell missbraucht worden? War sie vielleicht schon tot?
Cindy öffnete ein neues Dokument in ihrem Computer, und nach ein paar Fehlstarts spürte sie, wie die Geschichte sich unter ihren Fingern abzuspulen begann. » Die 5-jährige Tochter des Mitherausgebers der Chronicle , Henry Tyler, wurde heute
Morgen entführt, nur wenige Blocks vom Haus der Familie entfernt … «
Sie konnte immer noch Henry Tylers Stimme hören, erstickt von Kummer: »Schreiben Sie den Artikel, Cindy. Und beten Sie zu Gott, dass wir Madison wiederhaben, bevor wir ihn bringen.«
32
Yuki Castellano saß in der dritten Reihe der Zuschauergalerie im Verhandlungssaal 22 des Superior Court und wartete darauf, dass der Gerichtsdiener die Fallnummer aufrief. Sie war erst seit ungefähr einem Monat bei der Staatsanwaltschaft, nachdem sie einige Jahre als Strafverteidigerin in einer Top-Anwaltskanzlei gearbeitet hatte.
Doch schon jetzt fand sie die Arbeit als Anklagevertreterin spannender, packender und irgendwie echter als die Verteidigung irgendwelcher Wirtschaftskrimineller bei Zivilprozessen.
Es war genau das, was sie wollte.
Ihre ehemaligen Kollegen würden nicht glauben, wie viel Spaß ihr dieses neue Leben »auf der dunklen Seite« machte.
Der Zweck der heutigen Anhörung war die Ansetzung eines Prozesstermins für Alfred Brinkley. Im Büro hatten sie eine stellvertretende Staatsanwältin, deren Job es war, an rein formellen Routineterminen wie diesem teilzunehmen und den Hauptkalender zu führen.
Aber Yuki wollte auch nicht eine einzige Sekunde dieses Falls delegieren.
Leonard Parisi, der leitende Bezirksstaatsanwalt, hatte sie für diesen Prozess, der ihr sehr viel bedeutete, als zweite bevollmächtigte Staatsanwältin ausgewählt. Alfed Brinkley hatte vier Menschen ermordet. Und es war pures Glück, dass er nicht auch Claire Washburn, eine von Yukis besten Freundinnen, getötet hatte.
Yukis Blick wanderte über die Sitzreihen, streifte die Junkies und die Kindesmissbraucher, ihre Mütter und Freundinnen, die Pflichtverteidiger, die ins
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