Die 6. Geisel - Thriller
Augen
28
Madison Tyler hüpfte auf einem Bein über den Gehsteig, ohne die Fugen zu berühren, rannte dann zurück zu ihrem Kindermädchen und nahm ihre Hand. »Hast du überhaupt zugehört , Paola?«, fragte Madison, als sie weiter in Richtung Alta Plaza Park gingen.
Paola Ricci drückte Madisons kleine Hand.
Manchmal ging die entzückende frühreife Art des fünfjährigen Mädchens fast über ihren Verstand.
»Natürlich hab ich zugehört, Schatz.«
»Also, wie ich schon sagte«, fuhr das Mädchen in seiner drolligen altklugen Art fort, »wenn ich die Bagatelle von Beethoven spiele, bilden die ersten Noten eine aufsteigende Tonfolge, und sie sehen aus wie eine blaue Leiter…«
Sie trällerte die Noten.
»Und dann im nächsten Teil, wenn ich C-D-C spiele, sind die Noten rosa-grün-rosa!«
»Du stellst dir also vor , dass diese Noten Farben haben?«
»Nein, Paola«, verbesserte das Mädchen sie. »Die Noten sind die Farben. Siehst du denn keine Farben, wenn du singst?«
»Nee. Ich bin wohl ein Dummi«, sagte Paola. »Eine Super-Dummi-Nanny.«
»Ich weiß nicht, was eine Super-Dummi-Nanny ist «, erwiderte Madison, und ein strahlendes Lächeln ließ ihre großen braunen Augen funkeln. »Aber es klingt sehr komisch.«
Sie lachten beide ausgelassen. Madison schlang die Arme um Paolas Taille und vergrub ihr Gesicht im Mantel der jungen Frau, als sie an der exklusiven Waldorfschule vorbeikamen, nur anderthalb Blocks von dem Haus entfernt, in dem Madison mit ihren Eltern wohnte.
»Heute ist Samstag«, flüsterte Madison Paola zu. »Samstags muss ich die Schule nicht mal anschauen !«
Jetzt war es nur noch ein Block bis zum Park, und als Madison die Steinmauer erblickte, die ihn umschloss, wurde sie ganz aufgeregt und wechselte das Thema.
»Mommy sagt, ich darf einen roten Lakeland-Terrier haben, wenn ich ein bisschen größer bin«, vertraute sie Paola an, als sie die Divisadero überquerten. »Ich werde ihn Wolfgang nennen.«
»Was für ein ernsthafter Name für einen kleinen Hund«, meinte Paola, während sie sich darauf konzentrierte, sicher auf die andere Straßenseite zu wechseln. Den schwarzen Minivan, der mit laufendem Motor vor der Parkmauer stand, beachtete sie kaum. In Pacific Heights waren teure schwarze Minivans ungefähr so verbreitet wie Krähen.
Paola schwang Madisons Arm, und das Kind sprang auf den Bordstein, um dann plötzlich innezuhalten, als ein Mann aus dem Van stieg und schnell auf sie zukam.
»Paola, wer ist das?«, fragte Madison ihr Kindermädchen.
» Was gibt’s denn? «, rief Paola dem Mann zu, der aus dem Van gestiegen war.
»Zu Hause ist etwas passiert. Ihr müsst beide sofort mitkommen. Madison, deine Mama ist die Treppe runtergefallen.«
Madison sprang hinter dem Rücken ihres Kindermädchens hervor und rief: »Mein Daddy hat gesagt, ich darf nie zu einem Fremden ins Auto steigen! Und Sie sind ganz schön fremd, wissen Sie das?«
Der Mann hob das Kind auf wie eine Tüte Vogelfutter. » Hilfe! Lassen Sie mich runter! «, schrie Madison, doch er warf sie einfach auf den Rücksitz des Vans.
»Los, rein mit dir«, sagte der Mann zu Paola. Er richtete eine Pistole auf ihre Brust.
»Entweder du steigst jetzt ein, oder du siehst die Kleine nie wieder.«
29
Rich Conklin und ich waren gerade in den Bereitschaftsraum zurückgekehrt, nachdem wir den ganzen Morgen in einem brutalen Fall ermittelt hatten, als Jacobi uns in sein Büro winkte.
Wir gingen über den grauen Linoleumfußboden auf den Glaskasten zu und traten ein. Conklin hockte sich auf die Kante des Computertischs, wo Jacobi sonst immer gesessen hatte. Ich nahm auf dem Besucherstuhl neben Jacobis Schreibtisch Platz und sah zu, wie er es sich in meinem ehemaligen Sessel bequem machte.
Ich hatte immer noch Mühe, mich mit den jüngsten Veränderungen abzufinden. Kritisch beäugte ich das Chaos, das Jacobi in knapp zwei Wochen hier verbreitet hatte: Zeitungsstapel auf dem Boden und auf dem Fensterbrett; Essensgerüche, die aus dem Abfalleimer aufstiegen.
»Du bist ein Schwein, Jacobi«, sagte ich. »Und das meine ich ganz wörtlich.«
Jacobi lachte - etwas, was er in den letzten Tagen öfter getan hatte als in den zwei Jahren zuvor -, und trotz des Schlags gegen mein Ego war ich froh, dass er nicht länger mit hängender Zunge die steilen Straßen hinaufhetzen musste. Er war ein großartiger Polizist, beschlagen in der Kunst, das Unmögliche möglich zu machen, und ich arbeitete daran, ihn wieder genauso zu
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