Die 6. Geisel - Thriller
entführt, und die meisten wurden gefunden und konnten zu ihren Eltern zurückkehren. Aber jedes Jahr wurden ein paar hundert Kinder von ihren Kidnappern erwürgt, erstochen oder lebendig begraben.
Und die meisten dieser Kinder wurden in den ersten Stunden nach ihrer Entführung ermordet.
Statistisch gesehen war es weitaus wahrscheinlicher, dass Madison von einem Erpresser und nicht von einem perversen Kinderschänder und -mörder verschleppt worden war. Das einzige Problem bei diesem Szenario war, dass es eine entscheidende, zutiefst beunruhigende Frage unbeantwortet ließ.
Warum war noch niemand mit einer Lösegeldforderung an die Tylers herangetreten?
Cindy war auf halbem Weg zurück in ihr Schlafzimmer, als es an ihrer Tür klingelte. Sie erstarrte, und ihr Herz machte einen Satz. Sie kannte keine Menschenseele in diesem Haus!
Wer konnte also um diese Zeit an ihrer Tür klingeln?
Es läutete wieder, hartnäckig.
Cindy raffte ihren Bademantel zusammen, ging zur Tür und lugte erneut durch den Spion. Sie konnte nicht glauben, wer ihr da von der anderen Seite entgegenstarrte.
Es war Lindsay.
Und sie sah fürchterlich aus.
41
Ich wollte mich schon umdrehen und wieder gehen, als Cindy mir in ihrem rosa Pyjama die Tür öffnete, die Locken mit einem Gummi zu einem Knoten hochgebunden. Sie starrte mich an, als wäre ich gerade von den Toten auferstanden.
»Alles okay bei dir?«, fragte ich.
» Bei mir ? Mir geht’s gut, Lindsay. Ich wohne hier, falls du das vergessen hast. Aber was ist denn mit dir passiert?«
»Ich hätte ja angerufen«, sagte ich, während ich meine Freundin umarmte und den Moment zu nutzen versuchte, um mich ein bisschen zusammenzureißen. Aber Cindy war meine geschockte Miene offensichtlich nicht entgangen. Und im Übrigen sah sie selbst auch nicht allzu gut aus. »Aber ich habe selbst nicht gewusst, dass ich komme, bis ich vor deiner Tür stand.«
»Na, komm schon rein und pflanz dich auf deinen Hintern«, forderte sie mich auf. Während ich zur Couch ging, starrte sie mich besorgt an.
An den Wänden stapelten sich Pappkartons, und Bahnen von Luftpolsterfolie flatterten mir um die Füße.
»Was ist passiert, Lindsay? Um Yuki zu zitieren: ›Du siehst aus, als hättest du in einer Mülltonne übernachtet.‹«
Ich brachte ein müdes Lachen zustande. »Ungefähr so fühle ich mich auch.«
»Was kann ich dir anbieten? Tee? Oder vielleicht was Stärkeres?«
»Tee wäre super.«
Ich ließ mich auf die Sofakissen sinken, und ein paar Minuten später kam Cindy aus der Küche zurück, zog sich einen Hocker heran und drückte mir einen Becher Tee in die Hand. »Dann erzähl mal«, sagte sie.
Cindy ist wirklich ein wandelndes Paradox: pinkfarbene Rüschen und blonde Löckchen, geht nie ohne Lippenstift und passende Schuhe aus dem Haus - aber hinter dieser Girlie-Fassade verbirgt sich eine Bulldogge, die sich in dein Bein verbeißt und nicht locker lässt, bis du ihr sagst, was sie hören will.
Ich kam mir plötzlich vor wie eine Idiotin. Allein der Anblick meiner Freundin hatte mich schon aufgemuntert, und ich hatte gar nicht mehr das Bedürfnis, mich zu öffnen und über Joe zu reden.
»Ich wollte mal deine Wohnung sehen.«
»Das kannst du deiner Oma erzählen.«
»Du bist ja gnadenlos …«
»Ist wohl eine Berufskrankheit.«
»Und stolz bist du auch noch drauf.«
»Ab-so-lut.«
»Du Miststück!« Ich musste einfach lachen.
»Schieß schon los. Nur raus damit«, forderte sie mich auf. »Keine Hemmungen, ja?«
»Wieso Hemmungen? Ich hab dich doch gerade ›Miststück‹ genannt.«
»Okay, gut. Was liegt an, Linds?«
Ich bedeckte mein Gesicht mit einem Sofakissen, flüchtete mich in die Dunkelheit und hatte das Gefühl, in einen tiefen Abgrund zu stürzen. Ich seufzte. »Ich habe mit Joe Schluss gemacht.«
Cindy riss mir das Kissen vom Gesicht.
»Das ist doch ein Witz, oder?«
»Sei nett zu mir, Cindy, ja? Sonst kotz ich dir noch auf den Teppich.«
»Okay, okay, aber warum machst du so was? Joe ist intelligent, er sieht blendend aus, er liebt dich, und du liebst ihn. Was ist bloß in dich gefahren?«
Ich zog die Beine an und schlang die Arme fest um die Knie. Cindy setzte sich neben mich auf die Couch und legte einen Arm um mich.
Ich hatte das Gefühl, mich an einem dürren Bäumchen festzuklammern, während eine Flutwelle über mich hinwegging. Ich hatte so viel geweint in letzter Zeit, und ich dachte, ich müsse den Verstand verlieren.
»Lass dir Zeit, Liebes. Ich
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