Die 6. Geisel - Thriller
die Stimme. »Madison Tyler ist wohlauf.«
»Woher wissen Sie das?«
»Sag mal was, Maddy.«
Und dann hörte ich eine andere Stimme, hauchig und gebrochen, eine Kinderstimme. »Mommy? Mommy?«
»Madison?«, rief ich in den Hörer.
Die Froschstimme war wieder da.
»Sagen Sie den Eltern, dass sie einen großen Fehler gemacht haben, als sie die Polizei eingeschaltet haben. Blasen Sie die Jagd ab«, sagte der Anrufer, »sonst werden wir Madison wehtun. Sehr weh. Wenn Sie sich raushalten, wird ihr nichts geschehen, aber so oder so werden die Tylers ihre Tochter nie wiedersehen.«
Und dann war die Leitung tot.
»Hallo? Hallo? «
Ich drückte hektisch auf die Gabel, bis ich das Freizeichen hörte, und knallte dann den Hörer hin.
» Brenda, rufen Sie die Telefonzentrale an! «
»Was war das denn?«, rief Conklin. »›Sie haben einen großen Fehler gemacht, als sie die Polizei eingeschaltet haben‹ ? Lindsay, hat das kleine Mädchen sich wie Madison angehört?«
»Herrgott, ich konnte es nicht erkennen. Ich weiß es nicht .«
»Was zum Teufel …«, fluchte Conklin und pfefferte ein Telefonbuch an die Wand.
Mir war schwindlig, fast körperlich übel.
War Madison wirklich wohlauf?
Was sollte das heißen, dass die Eltern nicht die Polizei hätten einschalten sollen? Hatte es etwa eine Lösegeldforderung oder einen Anruf gegeben, von dem wir nichts wussten?
Alle Augen im Bereitschaftsraum waren auf mich gerichtet, und Jacobi stand so dicht hinter mir, dass ich regelrecht seinen Atem im Nacken spürte. Da kam der Rückruf aus der Telefonzentrale mit dem Ergebnis der Rückverfolgung.
Der Anrufer hatte ein No-Name-Handy benutzt, und der Standort konnte nicht ermittelt werden.
»Die Stimme war verzerrt«, sagte ich zu Jacobi. »Ich schicke das Band in die Kriminaltechnik.«
»Bevor du das tust, spiel es erst mal den Eltern vor. Vielleicht können sie die Stimme des Kindes ja eindeutig identifizieren.«
»Könnte immer noch irgendein kranker Spinner sein, der sich einen Scherz erlaubt hat«, meinte Conklin, als Jacobi gegangen war.
»Das hoffe ich sogar. Denn wir werden die ›Jagd‹ nicht ›abblasen‹. Wir denken gar nicht daran.«
Ich konnte nicht sagen, was ich wirklich dachte.
Dass wir gerade Madison Tylers letzte Worte gehört hatten.
55
Brenda Fregosi arbeitete seit ein paar Jahren als Teamassistentin der Mordkommission, und mit ihren fünfundzwanzig Jahren hatte sie schon einen ausgeprägten Mutterinstinkt.
Sie schnalzte mitfühlend mit der Zunge, als ich mit Henry Tyler telefonierte, und als ich auflegte, reichte sie mir einen Notizzettel.
Ich entzifferte ihre spitze Handschrift: » Claire möchte, dass Sie heute Abend um sechs zu ihr ins Krankenhaus kommen. «
Es war kurz vor sechs.
»Wie hat sie sich angehört?«, fragte ich.
»Gut, würde ich sagen.«
»Und sonst hat sie nichts gesagt?«
»Also, wörtlich sagte sie: ›Brenda, bitte sagen Sie Lindsay, dass sie um sechs ins Krankenhaus kommen soll. Vielen Dank.‹«
Ich hatte Claire gestern erst gesehen. Was war da los?
Auf der Fahrt zum San Francisco General schwirrten mir tausend schreckliche, deprimierende Gedanken durch den Kopf. Claire hatte mir einmal etwas über die Chemie des Gehirns erzählt - es lief darauf hinaus, dass man sich, wenn es einem gut geht, überhaupt nicht vorstellen kann, dass es einem je wieder schlecht gehen könnte. Und wenn es einem schlecht geht, kann man sich unmöglich vorstellen, dass irgendwann noch mal eine Zeit kommen wird, wo nicht alles den Bach runtergeht.
Während ich Pfefferminzbonbons lutschte, rief die Stimme eines kleinen Mädchens in meinem Kopf immer wieder »Mommy!«. Und was meine Stimmung zusätzlich drückte, war meine reflexartige Abneigung gegen Krankenhäuser, die ich nicht mehr loswerde, seit meine Mutter vor fünfzehn Jahren in einem gestorben ist.
Ich stellte den Wagen auf dem Krankenhausparkplatz ab und musste daran denken, wie gut es getan hatte, mit Joe reden zu können, wenn ich so am Boden war wie jetzt - nach drei Tagen, in denen ich von einer Sackgasse in die nächste gestolpert war.
Als ich den Aufzug betrat, wandten meine Gedanken sich wieder Claire zu. Ich starrte mein Spiegelbild in den Stahltüren an - eine erschöpfte, ausgebrannte Frau. Während der Fahrt nach oben unternahm ich einen halbherzigen Versuch, meinen Pony zurechtzuzupfen, und als die Türen sich öffneten, tauchte ich ein in den schrecklichen Geruch und das kalte weiße Licht der
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