Die 6. Geisel - Thriller
Post-OP-Station.
Ich war nicht die erste Besucherin in Claires Zimmer. Yuki und Cindy hatten schon ihre Stühle an ihr Bett gerückt, und Claire hatte sich aufgesetzt. Sie trug ein geblümtes Nachthemd, und um ihre Lippen spielte ein Mona-Lisa-Lächeln.
Der ganze Club der Ermittlerinnen war versammelt - aber wozu?
»Hallo zusammen«, sagte ich und ging ums Bett herum, um Küsschen zu verteilen. »Du siehst fantastisch aus«, versicherte ich Claire. Meine Erleichterung darüber, dass es nicht um irgendeine lebensbedrohliche Krise ging, machte mich beinahe übermütig. »Was ist denn der Anlass dieser Versammlung?«
»Sie wollte es uns nicht verraten, bevor du da bist«, sagte Yuki.
»Okay, okay!«, rief Claire. »Ich habe euch etwas mitzuteilen.«
»Du bist schwanger «, sagte Cindy.
Claire lachte schallend, und wir starrten alle Cindy an.
»Du spinnst, junges Fräulein von der Presse«, sagte ich. Ein Baby war das Letzte, was Claire mit ihren dreiundvierzig Jahren und zwei fast erwachsenen Söhnen gebrauchen konnte.
»Gib uns einen Tipp«, platzte Yuki heraus. »Nenn uns wenigstens eine Kategorie.«
»Ihr seid unmöglich!«, rief Claire, immer noch lachend. »Mir einfach so meine schöne Überraschung zu versauen.«
Cindy, Yuki und ich drehten uns gleichzeitig zu ihr um.
»Ich hatte ein paar Bluttests«, fuhr Claire fort. »Und wie üblich hat Miss Cindy den Nagel auf den Kopf getroffen.«
»Ha!«, rief Cindy.
»Wenn ich nicht sowieso im Krankenhaus gelegen hätte«, meinte Claire, »dann hätte ich wahrscheinlich gar nicht gemerkt, dass ich schwanger bin, bis die Wehen eingesetzt hätten.«
Jetzt plapperten wir alle durcheinander: »Was hast du gesagt?« - »Du willst uns wohl auf den Arm nehmen?« - »Im wievielten Monat bist du denn?«
»Das Sonogramm zeigt, dass mein Kleines gesund und munter ist«, sagte Claire, selig lächelnd wie ein Buddha. » Mein Wunderkind! «
56
Ich musste mich bald von der Feier losreißen, da ich ohnehin schon spät dran war für den Termin mit Tracchio im Präsidium. Als ich sein Büro betrat, bat der Chief die Tylers gerade, auf den Ledersesseln Platz zu nehmen, während Jacobi, Conklin und Macklin Stühle heranrückten und sich im Halbkreis um Tracchios großen Schreibtisch gruppierten.
Die Tylers sahen aus, als ob sie die letzten vierundachtzig Stunden im Stehen geschlafen hätten: grau im Gesicht, mit hängenden Schultern. Ich wusste, dass sie von quälender Ungewissheit geplagt wurden und mit einer Mischung aus Hoffen und Bangen darauf warteten, die Tonbandaufzeichnung zu hören.
Ein Kassettenrekorder wurde auf Tracchios Schreibtisch aufgebaut. Ich beugte mich vor und drückte die Abspieltaste, worauf eine Furcht einflößende, böse Stimme im Wechsel mit meiner eigenen das Zimmer füllte.
Die Stimme eines kleinen Mädchens rief: » Mommy? Mommy? «
Ich drückte die Stopptaste des Rekorders. Elizabeth Tyler streckte die Hand nach dem Gerät aus, wandte sich aber dann plötzlich ab, fasste den Arm ihres Mannes und vergrub das Gesicht schluchzend in seinem Mantel.
»Ist das Madisons Stimme?«, fragte Tracchio.
Beide Eltern nickten.
»Der Rest des Bands wird für Sie noch schwieriger zu ertragen sein«, warnte Jacobi. »Aber wir sind dennoch optimistisch. Wir wissen jetzt, dass Ihre Tochter am Leben war, als dieser Anruf einging.«
Ich drückte wieder die Starttaste und beobachtete die Mienen der Tylers, als sie den Kidnapper sagen hörten, dass Madison
wohlauf sei, ihre Eltern sie aber nie wiedersehen würden.
»Mr. und Mrs. Tyler, können Sie sich irgendwie erklären, warum der Kidnapper sagt, Sie hätten ›einen großen Fehler gemacht, als Sie die Polizei einschalteten‹?«, fragte ich.
»Ich habe nicht die geringste Ahnung«, entgegnete Henry Tyler scharf. »Warum sollten die Entführer sich auch bedroht fühlen? Sie haben doch bis jetzt nichts erreicht. Sie haben noch nicht einmal einen Verdächtigen . Wo bleibt das FBI? Warum ist es noch nicht in die Suche nach Madison eingeschaltet worden?«
»Wir arbeiten mit dem FBI zusammen«, warf Macklin ein. »Wir nutzen seine Quellen und Datenbanken, aber das FBI wird sich nicht aktiv in diesen Fall einschalten, solange wir keinen Hinweis darauf haben, dass Madison in einen anderen Bundesstaat verschleppt wurde.«
»Dann sagen Sie ihnen, dass es so ist!«
»Mr. Tyler«, schaltete Jacobi sich ein, »unsere Frage an Sie lautet: Haben die Kidnapper mit Ihnen Kontakt aufgenommen und Sie davor gewarnt, die
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