Die 6. Geisel - Thriller
Frau, beide weiß und Ende vierzig.
Es war ein Schnappschuss von einer Weihnachtsfeier. Ein prächtiger Saal, Holztäfelung mit Schnitzereien. Männer im Abendanzug, Frauen im Cocktailkleid.
Macklin hatte den Finger auf das Foto gelegt, genau auf die
brünette Frau, die ein tief ausgeschnittenes bronzefarbenes Kleid trug. Sie schmiegte sich an einen lächelnden Mann, der den Arm um sie gelegt hatte.
Wer die Frau war, konnte ich nur raten, aber den Mann kannte ich. Er hatte schwarze Haare, glatt nach hinten gekämmt, Kinnbart, keine Brille.
Aber ich hatte erst vor Kurzem in dieses Gesicht geblickt, und ich erkannte es wieder.
John Langer war Paul Renfrew.
111
Kurz nach zwölf Uhr mittags am selben Tag saß ich mit Conklin im Uncle’s Café in Chinatown. Wir hatten beide das Tagesgericht bestellt: Schmorfleisch mit Kartoffelpüree und grünen Bohnen. Conklin machte sich gleich über seine Kartoffeln her, aber ich hatte einfach keinen Appetit.
Durch das Fenster hatten wir einen ungehinderten Blick über die düstere Straße auf die Reihe von Backsteinhäusern und die Westwood-Agentur.
Eine schwangere Chinesin mit Zöpfen schenkte uns Tee nach. Als ich eine Nanosekunde später aus dem Fenster schaute, sah ich Paul Renfrew - wie er sich derzeit nannte - aus der Tür seiner Agentur treten und die Stufen hinuntergehen.
»Sieh mal«, sagte ich und schlug mit dem Löffel an Conklins Teller. Mein Handy klingelte. Es war Pat Noonan.
»Mr. Renfrew geht jetzt Mittag essen. Er ist in einer Stunde wieder da.«
Ich bezweifelte es.
Renfrew würde fliehen.
Und er hatte keine Ahnung, wie viele Augen ihn beobachteten.
Conklin beglich die Rechnung, während ich zuerst Stanford und dann Jacobi anrief. Ich zog den Reißverschluss meiner Jacke über der schusssicheren Weste zu und beobachtete, wie Renfrew energischen Schritts an Kräuterläden und Souvenirgeschäften vorbeimarschierte und auf die Ecke Waverly und Clay zusteuerte.
Conklin und ich stiegen in unseren Crown Vic, als Renfrew gerade seine mitternachtsblaue BMW-Limousine aufschloss. Er sah sich kurz um, dann stieg er ein und fuhr in Richtung Süden davon.
Dave Stanford und seine Partnerin Heather Thomson hängten sich an Renfrew dran, als er zur Sacramento Street kam, während Jacobi und Macklin die nördliche Route Richtung Broadway nahmen. Es piepste und knatterte in unseren Funkgeräten, als die Einheiten unseres Teams ihre Positionen und die des BMW meldeten. Ein Wagen folgte ihm eine Weile und ließ sich dann zurückfallen, während der nächste sich unauffällig einfädelte und die Fährte aufnahm.
Mein Herz schlug wie eine Basstrommel, als wir Paul Renfrew folgten, ohne auch nur den leisesten Schimmer zu haben, wohin er uns führte.
Wir fuhren über die Bay Bridge und weiter nach Norden auf dem Highway 24, bis wir nach Contra Costa County kamen.
Conklin und ich waren an der Spitze der Verfolger, als Renfrew von der Altarinda Road auf eine der kleineren Straßen abbog, die nach Orinda hineinführen - eine ruhige, wohlhabende Stadt, halb versteckt zwischen den Berghängen ringsum.
Ich hörte Jacobis Stimme im Funkgerät; er meldete der örtlichen Polizei, dass wir im Rahmen einer Mordermittlung eine Observation durchführten. Macklin forderte Verstärkung von der Staatspolizei an und rief dann das Revier in Oakland an, um eine Hubschrauber-Überwachung zu beantragen. Die nächste Stimme, die ich hörte, war die von Stanford. Er forderte schweres Geschütz an - ein Einsatzteam des FBI.
»Wir haben gerade die Kontrolle über den Zugriff verloren«, sagte ich zu Conklin, als Renfrews BMW plötzlich langsamer wurde und in die Einfahrt eines weißen Hauses mit mehreren Giebeln und blauen Fensterläden einbog.
Conklin fuhr ganz unauffällig an dem Haus vorbei.
An der Kreuzung am Ende der Straße machten wir kehrt, rollten langsam zurück und hielten im Schatten eines Baums, schräg gegenüber der Einfahrt, in der Renfrew seinen
BMW neben einem schwarzen Honda Minivan abgestellt hatte.
Das konnte kein Zufall sein.
Das musste der Van sein, mit dem Madison Tyler und Paola Ricci entführt worden waren.
112
Ich gab das Kennzeichen des Vans in den Bordcomputer unseres Wagens ein. In Gedanken war ich schon bei dem Durchsuchungsbeschluss, den wir uns besorgen würden. Wenn wir den Van beschlagnahmten, gab es die vage Hoffnung, dass wir vielleicht ein paar Partikel von Paola Riccis Blut in einer Polsternaht finden könnten - und damit einen handfesten Beweis,
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