Die 6. Geisel - Thriller
Sherman stand auf, als man Brinkley die Handschellen und die Ketten abnahm. Er rückte seinem Mandanten einen Stuhl zurecht, und Brinkley fragte ihn: »Bekomme ich jetzt meine Chance?«
»Ich denke darüber nach«, beschied Sherman seinem Mandanten. »Sind Sie sich da sicher, Fred?«
Brinkley nickte. »Sehe ich okay aus?«
»Klar. Sie sehen gut aus.«
Mickey lehnte sich zurück und betrachtete eingehend den bleichen, klapperdürren Mann mit dem ungleichmäßigen Haarschnitt, dem Rasierbrand im Gesicht und dem glänzenden Anzug, der an ihm hing wie die Lumpen an einer Vogelscheuche.
Die Faustregel ist, dass man seinen Mandanten nicht in den Zeugenstand holt, solange einem das Wasser nicht bis zum Hals steht, und auch dann nur, wenn der Mandant glaubwürdig und sympathisch genug ist, um die Geschworenen umstimmen zu können.
Fred Brinkley war ein Sozialkrüppel und ein Langweiler.
Andererseits, was hatten sie denn zu verlieren? Die Staatsanwaltschaft hatte Aussagen von Augenzeugen, Videoaufnahmen und ein Geständnis. Und deshalb spielte Sherman mit
dem Gedanken. Einerseits hieß es allzu große Risiken vermeiden, andererseits könnte Fred-a-lito-lindo die Geschworenen ja vielleicht doch davon überzeugen, dass er wirklich nicht bei Sinnen war, als er auf diese armen Leute geschossen hatte, weil das Krakeelen in seinem Kopf einfach so unerträglich gewesen war …
Es war Freds gutes Recht, zu seiner eigenen Verteidigung auszusagen, aber Sherman glaubte, es ihm ausreden zu können. Er war immer noch unentschlossen, als die Geschworenen sich auf der Bank niederließen und der Richter seinen Platz einnahm. Der Gerichtsdiener bat um Ruhe, und erwartungsvolles Schweigen legte sich über den holzgetäfelten Saal.
Richter Moore spähte über den schwarzen Rahmen seiner dicken Brille und fragte: »Sind Sie bereit, Mr. Sherman?«
»Ja, Euer Ehren«, erwiderte Sherman. Er erhob sich, schloss den mittleren Knopf seines Sakkos und wandte sich an seinen Mandanten. »Fred …«
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»Und nach dem Unfall Ihrer Schwester sind Sie also ins Napa State Hospital gegangen?«, fragte Sherman. Er stellte fest, dass Fred im Zeugenstand ganz locker und entspannt wirkte. Besser, als er erwartet hatte.
»Ja. Ich habe mich selbst einweisen lassen. Ich wär sonst durchgedreht.«
»Ah ja. Und haben Sie im Napa Medikamente bekommen?«
»Klar. Wenn man sechzehn ist, hat man’s so schon schwer genug, auch ohne dass man seine kleine Schwester sterben sieht.«
»Sie hatten also Depressionen, weil Sie Ihre Schwester nicht hatten retten können, als sie von dem Baum getroffen wurde und über Bord ging?«
»Euer Ehren«, warf Yuki ein und erhob sich von ihrem Platz, »wir haben nichts dagegen einzuwenden, dass Mr. Brinkley hier aussagt, aber ich denke, dann sollte er wenigstens vereidigt werden.«
»Ich werde eine andere Frage stellen«, fuhr Sherman kühl lächelnd fort, ohne den Blick von seinem Mandanten zu wenden. »Fred, haben Sie schon vor dem Unfall Ihrer Schwester Stimmen in Ihrem Kopf gehört?«
»Nein. Erst danach habe ich angefangen, ihn zu hören.«
»Fred, können Sie den Geschworenen sagen, wen Sie damit meinen?«
Fred verschränkte die Finger auf dem Kopf und seufzte tief, als würde er die Stimme dadurch, dass er sie beschrieb, heraufbeschwören.
»Also, es gibt da mehr als nur eine Stimme«, erklärte Brinkley. »Da ist einmal eine Frauenstimme, die redet in so einer Art Singsang, ein bisschen weinerlich, aber die können Sie vergessen . Und dann ist da der andere, und der ist richtig wütend
. So richtig rasend vor Wut, total ausgerastet. Und der beherrscht mich.«
»Ist das die Stimme, die Ihnen an jenem Tag auf der Fähre befahl, zu schießen?«
Brinkley nickte unglücklich. »Er hat geschrien: › Töte, töte, töte! ‹, und alles andere war in dem Moment egal. Ich konnte nur ihn hören. Ich konnte nur tun, was er mir sagte. Es gab nur ihn , und alles andere war ein entsetzlicher Albtraum.«
»Fred, könnte man sagen, dass Sie niemals, unter keinen Umständen, einen Menschen erschossen hätten, wenn es diese Stimmen nicht gegeben hätte, die Sie seit fünfzehn Jahren, seit dem Unfall Ihrer Schwester, ›beherrschen‹?«, fragte Sherman.
Doch er musste feststellen, dass sein Mandant ihm gar nicht mehr richtig zuhörte. Freds Blick war auf die Zuschauergalerie gerichtet.
»Das ist meine Mutter !«, rief er mit ungläubigem Erstaunen in der Stimme. »Das ist meine Mom !«
Die Blicke der Zuschauer richteten
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