Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)
bisschen für ihre Fragen schämte und froh über den Themenwechsel war. »Das sollte man auf die Parlamente schreiben und auf die Justizpaläste, auf die Opernhäuser, die Universitäten und die Banken.«
Allegras Wohnung hatte hundert Quadratmeter. Sie lag im 1. Bezirk in der Singerstraße und bestand aus einem riesigen Raum, in dem Küche, Schlafzimmer und Arbeitszimmer ineinander übergingen. Ihr Vater hatte die Wohnung gekauft. Sie lag im vierten Stock, durch die breite Fensterfront konnte man das Dach des Stephansdoms sehen, aus dessen Ziegeln ein Fischgrätmuster gebildet war. Wenn das Dach von der untergehenden Sonne angestrahlt wurde, sah es aus wie ein golden-grün-weißer Teppich, der über die Spitzen der Stadt gelegt war. Allegra hatte ein breites Bett. Ich fühlte mich wohl darin. Ich schlief lange. Allegra besorgte nach dem Aufstehen Brot und Milch. Die meiste Zeit waren wir nur in Unterhosen oder nackt. Wir stritten uns nie. Allegra wunderte sich darüber. Weil sie ein streitsüchtiger Mensch sei, an und für sich. Sie las viel. Ich sah ihr zu. Ich kochte. Nudeln mochten wir. Ich vergaß zu rauchen. Weil sie nicht rauchte.
Am Karfreitag – Aldo Moro, ein Opfer des Handwerks des Weltgeistes, befand sich seit acht Tagen in Gefangenschaft der Brigate Rosse, und zwar, wie die Welt später erfuhr, in einem Appartement in Rom in der Via Montalcini hinter einer Bücherwand in einem schmalen Raum, der mit Schaumstoff ausgeschlagen war, und wurde von einem jungen Mann und einer jungen Frau mit Biscotti, Caffè Latte und Kassetten eines Radiomitschnitts der Heiligen Messe aus dem Petersdom versorgt – am Karfreitag 1978 fuhr Allegra früh am Morgen mit dem Zug zu ihren Eltern nach Turin. Sie wollte die Feiertage und ein paar weitere Tage in Italien verbringen, ein großes Familientreffen würde stattfinden, das ziehe sich hin und werde wie immer sehr lustig werden. Sie hatte mich gefragt, ob ich mitkomme. Ihre Eltern würden sich freuen. Sie habe ihnen am Telefon erzählt, dass sie sich von Riccardo getrennt habe und dass ich Waise sei und Welthandel studiere und Italienisch spreche und dass alles aus mir werden könne. Ich begleitete sie zum Südbahnhof. »Bitte, komm mit«, sagte sie und hängte sich bei mir ein und stützte sich so fest auf meinen Unterarm, dass ich es bis ins Schlüsselbein hinauf spürte. »Du hast niemanden, du wirst traurig sein und einsam. Es hält dich hier doch nichts, ich bezahle alles.«
2
Weil ich nicht wusste, was ich mit dem frühen Tag anfangen sollte, setzte ich mich in die U-Bahn und fuhr über den Gürtel in den 8. Bezirk hinüber. Ich wollte Rudi besuchen. Ich wusste, dass am heutigen Tag sein Gott ermordet wurde, und dachte, vielleicht freut er sich, wenn ich ihm sage, dass es mir leid tut, vielleicht vermisste er ein bisschen Trost. Ich schätzte, an einem solchen Tag würde er seine Zeit in seiner Kirche verbringen; Rudi wollte bestimmt kein Feigling und auch kein Verräter sein wie die Apostel, die eingeschlafen waren, während ihr Gott so furchtbare Angst vor den Römern hatte, dass er sein Blut aus der Stirn herausschwitzte.
Rudi stand am Altar in Turnschuhen, Kasel und Stola, das Kreuz war mit einem violetten Tuch verhüllt. Ein Ministrant assistierte ihm. Ich war der einzige Gast. Wenn er im Gefängnis die Messe gelesen hatte, war ich hin und wieder dabei gewesen, feierlich hatte er es nie aufgezogen, meistens hatte er die Stola einfach über die Schnürlsamtjacke gelegt, und anstatt Hostien waren auch schon abgezupfte Brotbrocken verteilt worden, und in das Vaterunser hatte er eigene Gedanken hineinimprovisiert. Er sah mich beim Segen an, als kennte er mich nicht. Danach verschwand er zusammen mit dem Ministranten in der Sakristei, und ich blieb in der Holzbank sitzen und wartete, die Ellbogen auf die Knie gestützt. Es war kalt und still. Der Weihrauchduft mischte sich mit dem Moder- und Kalkgeruch der Wände. Es war erst acht Uhr, Rudis Gott lebte noch. Um drei Uhr nachmittags, das wusste ich, fand die Hinrichtung statt. Ich hätte gern eine geraucht.
Nach einer Weile kam Rudi und setzte sich neben mich. Aber er sagte nichts. Und Brille trug er keine. Und die Haare aufgestrubbelt hatte er nicht. Auch er stützte die Ellbogen auf die Knie.
»Hast du etwas gegen mich?«, fragte ich ihn.
»Ich weiß es nicht, wenn ich ehrlich bin«, antwortete er sofort, als hätte er auf diese Frage gewartet. »Ich glaube, du hast einen schlechten Einfluss auf
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