Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)
mich. Ich muss dir aus dem Weg gehen. Was willst du?«
»Warum habe ich einen schlechten Einfluss auf dich? Was habe ich getan?«
»Ich weiß es nicht«, sagte er und seufzte. »Ich versuche, ein guter Mensch zu sein.«
»Genau das will ich von nun an auch versuchen.«
»Das glaube ich dir nicht«, sagte er.
»Es gibt eine Methode, da geht das automatisch«, sagte ich. »Tut es dir leid, dass wir uns nicht mehr sehen?«
»Irgendwie schon. Ich weiß es nicht. Es war eine lustige Zeit.«
»Wie geht es Hemma? Tut es ihr leid, dass wir uns nicht mehr sehen?«
»Ich denke, sie ist froh, dass sie dich nicht mehr sieht.«
»Aber warum denn?«
»Ich weiß es nicht, Joel. Du brauchst meine Hilfe nicht mehr. Warum bist du gekommen? Die Heilige Andacht bedeutet dir doch nichts.«
»Der Erzbischöfliche Sekretär hat mich zum Nachmittagstee eingeladen. Du hast mir gesagt, ich soll mich bei dir melden, wenn es so weit ist.«
»Ich habe davon gehört. Er glaubt, du seiest eine Art heiliger Franziskus. Joel, halte die Menschen nicht zum Narren! Die meisten verdienen es nicht.«
»Ich weiß nichts über den heiligen Franziskus«, sagte ich. »Könntest du mir von ihm etwas erzählen? Damit ich nicht blank dastehe, wenn ich den Tee trinke.«
»Es heißt, du hast Tiere in deinem Zimmer in der Boltzmanngasse. Tiere, die sich normalerweise nicht miteinander vertragen. Joel! Eine Katze, einen Marder und einen Vogel!«
»Ein Rotkehlchen. Es ist ein Rotkehlchen.«
»Es heißt, du sprichst mit den Tieren. Aber nicht, wie normal ein Mensch mit Tieren spricht, sondern anders. Was ist das wieder für ein Trick, Joel?«
»Ein Trick? Und warum ›wieder‹?«
»Es sind abgerichtete Tiere, habe ich recht? Anders kann es nicht sein. Wie soll es anders gehen! Was willst du beweisen? Dass zwischen den Tieren und den Adamgesichtigen kein Unterschied ist? Du machst den Leuten Angst. Woher hast du die Tiere? Vom Film? Woher? Sag mir das!«
»Sie sind mir zugelaufen, Rudi. Ich wüsste nicht, dass sie abgerichtet wären. Kann man einen Marder oder ein Rotkehlchen überhaupt abrichten? Wenn sie wollen, können sie jederzeit gehen. Ich lasse das Fenster immer offen. Im Frühling ist das kein Problem. Wenn sie einander auffressen wollen, können sie einander auffressen. Ich bin die meiste Zeit nicht zu Hause.«
Durch die halbrunden Seitenfenster hoch oben im Kirchenschiff schienen die ersten Sonnenstrahlen des Tages. Über dem Altar erhob sich ein Aufbau aus braunem Marmor, der die gesamte Hinterwand der Kirche ausfüllte. Sechs Säulen ragten davor in die Höhe, jede mit einem goldenen Kapitell geschmückt. Neben den Sockeln standen überlebensgroße Figuren aus Gips oder weißem Stein, das konnte ich von der Bank aus nicht entscheiden, Männer und Frauen in wallenden Gewändern und in Haltungen und mit Mienen, als wären sie mitten in einer Diskussion, und jeder von ihnen würde gerade das Wort führen. Wenn sie plötzlich reden könnten, wäre ein furchtbares Durcheinander. Das Altargemälde innerhalb des Aufbaus bestand aus drei Teilen: Unten in der Mitte war eine Frau mit einem Kind im Arm zu sehen, sie war von einem goldenen Strahlenkranz umgeben, ich nahm an, das war die Gottesmutter mit ihrem Sohn Jesus. Dieses Bild war nicht sonderlich interessant, und ich konnte mir nicht vorstellen, dass die weißen Figuren über die Mutter mit dem Kind diskutierten. Darüber und mindestens viermal so groß wuchs das eigentliche Altarbild empor. Im oberen Drittel saßen ein alter und ein jüngerer Mann, beide in bodenlange Gewänder gehüllt, der alte in ein grünes, der jüngere in ein rotes, wobei der jüngere den Oberkörper entblößt und die rechte Hand wie zum Schwur erhoben hatte. Zu ihren Füßen lagerten zwei Frauen, die sangen und sich auf einer Harfe und einem anderen Instrument begleiteten. Im Zentrum des Bildes kämpften zwei Engel, der eine hatte weiße Flügel, der andere schwarze. Es war naheliegend, dass die weißen Figuren über die beiden Engel debattierten. Wer siegt in diesem Kampf? Warum kämpften die beiden überhaupt? Gibt es etwas zu gewinnen? Mit Riccardo hatte ich über Sport reden können, über das Boxen redeten wir besonders gern. Wir waren um Muhammad Ali besorgt, er hatte bei seinem letzten Kampf, den wir in einem Beisl am Spittelberg im Fernsehen mitverfolgt hatten, unkonzentriert gewirkt, gelangweilt, geistesabwesend, unambitioniert, depressiv. Wir vermuteten, die Schmach des Kampfes gegen den japanischen
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