Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)
Betreffenden nicht weniger rätselhaft ist als für den, der in dieses Gesicht blickt? Das halte er für möglich, sagte er.
In den schönsten Augenblicken war so viel Leid in Allegras Gesicht geschrieben, dass ich sie an mich drücken musste und ich tatsächlich drauf und dran war, ihr mein Leben zu beichten.
Ich sagte: »Was bedrückt dich?«
»Gar nichts«, gab sie zur Antwort. Und ich glaubte ihr. Sie hob den Kopf ein wenig, die Augen waren lange Schlitze. Dass das Leben nur lebenswert sei, wenn es weh tue, sagte dieses Gesicht. Aber das hatte nichts zu bedeuten, gar nichts. Sie zog die Beine an und rollte sich zur Seite, das T-Shirt rutschte ihr aus den Jeans.
»Und was bedrückt dich ?«, fragte sie und gab sich selbst die Antwort: »Als ich dich das erste Mal sah, dachte ich, du bist der einsamste Mensch, dem ich je begegnet bin. Deine Einsamkeit bedrückt dich, habe ich recht?«
»Nein, du hast nicht recht«, sagte ich, und es war, wie ich heute im Rückblick auf mein Leben behaupten darf, die Wahrheit.
»Schade«, sagte sie und kicherte – etwas atemlos und hoch in den Tönen, wie es ihre Art war, »es hätte mir gefallen« und meinte wahrscheinlich damit, sie sei froh, dass es einsamere Menschen gebe als mich.
Ich nahm mir nicht unbedingt vor, ein guter Mensch zu werden. Aber ich wollte lernen, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden. Man denkt, das sei einfach. Und es ist auch einfach, wenn man das Leben der anderen betrachtet und beurteilt. Stalin war kein guter Mensch. Das weiß jeder. Sein Narr war ebenfalls kein guter Mensch, sonst hätte er über die Verzweifelten nicht laut gelacht und seine Witze gemacht. Aber hat Karl Wiktorowitsch Pauker jemandem einen Schraubenzieher ins Herz gestoßen? Obendrein jemandem, der ihn geliebt hat? Nicht, dass wir wüssten. Ernst Koch, der Moraltheologe in Ausbildung, hatte eine interessante Theorie, die er irgendwann, wenn er als Uniprof europaweites Ansehen erworben habe und von Staatsmännern um seine Meinung gebeten würde, in einem Buch ausbreiten wollte. Beim Jüngsten Gericht, dies seine Überlegung, werden wir nicht gefragt, was wir Böses, sondern nur, was wir Gutes getan haben. Gott habe nur die Gabe, Gutes zu tun, in unsere Seele gelegt und nicht die Gabe, Böses zu tun. Gott interessiere sich, daraus folgend, nur für das Gute. Der Theologe las mir Matthäus 25,14–30 vor: »Das Himmelreich ist wie mit einem Mann, der auf Reisen ging: Er rief seine Diener und vertraute ihnen sein Vermögen an. Dem einen gab er fünf Talente Silbergeld, einem anderen zwei, wieder einem anderen eines, jedem nach seinen Fähigkeiten …« Die ersten beiden machten satte Geschäfte und verdoppelten, was ihnen anvertraut worden war, der letzte vergrub sein Talent. Als der Herr zurückkam, beschenkte er die ersten, den letzten bestrafte er. »Werft den nichtsnutzigen Diener hinaus in die äußerste Finsternis! Dort wird er heulen und mit den Zähnen knirschen.« Die Geschichte sei ein Gleichnis, also nicht wörtlich zu nehmen. Es gehe selbstverständlich nicht um Geld. Es komme darauf an, das Gute zu vermehren. Den ersten beiden sei dies gelungen, dem letzten nicht. Das Böse sei nichts anderes als die Unterlassung des Guten. »Und wie wissen wir, was das Gute ist?«, fragte ich. »Das wird uns gesagt oder gezeigt«, antwortete Ernst Koch. »Gott nimmt uns beim Finger und weist unseren Finger in die Richtung, die er für die richtige hält.« – Als Allegra und ich an diesem Frühlingstag vor den Osterferien auf dem Kahlenberg waren, dachte ich, ein Glück, dass ich sie gefunden habe, nun wird ein guter Mensch aus mir. Der Wind und die Donau – wir konnten von unserem Platz aus sehen, was der Wind mit der Donau anstellte, dass er sie glitzern ließ wie Schlangenhaut …
»Denkst du, wir gehören zusammen?«, fragte sie und zog sich das T-Shirt über den Kopf, so dass ihre kleinen Brüste frei wurden.
»Mhm«, sagte ich.
Sie fragte weiter, ob ich mir vorstellen könnte, mit ihr Kinder zu haben. Ich sah ihr Gesicht nicht und sagte, das könne ich mir vorstellen. Sie fragte, ob ich lieber einen Bub oder ein Mädchen hätte. Ich antwortete, einen Bub und ein Mädchen. Sie sagte, sie würde das Gleiche antworten, wenn ich sie fragte.
»Meinst du«, fragte ich, »du meinst also, erst wenn eine Entscheidung zwischen Gut und Böse möglich ist, hat etwas einen Sinn?«
»So meine ich es«, antwortete sie und zog sich das T-Shirt vom Gesicht, und ich sah, dass sie sich ein
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