Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)
Einfluss der Taten auf die Kerben zwischen den Augenbrauen, auf die Linien von den Nasenflügeln zu den Mundwinkeln, auf das Gewicht der Augenlider, auf die Art, wie sich die Augenlider über die Iris senken, auf die Form des Kinns, auf die Entscheidung der Oberlippe, beim Lächeln erst die linke oder die rechte Seite zu heben? Woher stammt die Fähigkeit eines Gesichts, im Betrachter Assoziationen von magischer Befehlskraft aufzurufen, so dass er sich von dessen Anblick nicht lösen will und kann? Allegras ernste Züge erzählten mir von einer Zukunft, in der ich nicht mehr allein sein würde, in der mir verziehen sein würde, so dass mich nicht in der Nacht und nicht am Tag Tiere heimsuchten und ich nicht am Rand des Waldes gehen musste, in dem die verrückten Dämonen hausten – in dem aber auch eine schattige Senke war, wo ein Bach sich staute und am Morgen die Sonne durch goldene Zweige brach und ein schwarzer Mann in einer Uniform der amerikanischen Armee und ein neunjähriger Vagabund in zerlumpten Fetzen die Tage und Nächte verbrachten, als wären sie die ersten und einzigen Menschen auf der Welt …
»Warum weinst du?«, fragte ich.
»Weil ich glücklich unglücklich bin«, antwortete sie.
»Ist das etwas Schönes?«, fragte ich.
»Es ist das Schönste«, sagte sie.
Eine Welle der Hingabe hob mein Herz, und beinahe hätte ich geredet und Allegra alles erzählt.
»Kochst du heute Abend etwas für uns?«, fragte sie und zwinkerte gegen die Sonne.
Kann man einem Gesicht ansehen, ob der Mensch gut oder böse ist? Ein Schriftsteller wie Sebastian Lukasser zum Beispiel – er muss mit dem Handwerk analytischer Zergliederung ausgestattet sein, wie sollte er sonst in seiner Arbeit das Wesen der Dinge sichtbar werden lassen? Aber auch über ausreichend Erfahrung von Auge und Ohr und der anderen Sinne muss er verfügen, damit er die unendlichen Erscheinungsformen der Dinge würdigen und in eine Ordnung bringen kann: Sieht er, sah er je in mir einen bösen Menschen? Nein, behüte! Er hätte sich sonst von mir abgewandt. Stattdessen sorgt er sich um mich. Was sieht er, was sah er in meinem Gesicht? Sich selbst?
Was sah Allegra in meinem Gesicht? War darin auch nur ein einziger wahrer Gedanke abgebildet? Also etwa dieser: Ich werde sie heiraten; ich werde mit ihr nach Italien ziehen; vielleicht kann ich ihren Namen annehmen – Joel Pellicano; es wird mir gelingen, das Vertrauen ihres Vaters zu gewinnen, ich werde an hoher Stelle in sein Geschäft eintreten, ich werde reich und sorglos werden und ein reiches, sorgloses und abenteuerarmes Leben führen; was ich gewesen bin, wird erlöschen … – Nein, behüte! Diese Gedanken las sie nicht in meinem Gesicht. Sie hätte sich von mir abgewandt. Ich spiegelte in mein Gesicht, was ich in ihrem Gesicht sah. »Du liebst mich«, sagte sie.
All diese Gedanken, weil ich heute beim Frühstück in der Zeitung ein Interview mit dem kanadischen Regisseur David Cronenberg gelesen habe, worin er sagt, die Essenz des Kinos sei das menschliche Gesicht. Diese kleine Bemerkung, auf die weder der interviewende Journalist noch Cronenberg selbst weiter einging, berührte mich wie eine elementare Wahrheit. Verhält es sich in der Wirklichkeit genauso wie im Film? Gleich, welcher Plot uns erzählt, welche Landschaft uns gezeigt wird, an welchen Dialogen man uns teilhaben lässt, alles bezieht Bedeutung einzig aus den Gesichtern, in die wir blicken? Ich hatte mich an den vorösterlichen Spaziergang hinauf zum Kahlenberg erinnert und eilig meinen Kaffee beiseitegeschoben und den Laptop aufgeklappt, um die Bilder und Gespräche festzuhalten, die wie die Schmetterlinge eines Déjà-vu in mir aufflatterten. Danach rief ich Sebastian an (er hat mir erlaubt, ihn zu kontaktieren, wann immer ich beim Schreiben seinen Rat benötige) und fragte ihn, ob es etwas wie eine zwischenmenschliche Mechanik der Gefühle gebe, die sich an den Physiognomien der Beteiligten ablesen lasse. Selbstverständlich, antwortete er ohne Verzug (was mich wunderte, denn meine Formulierung erschien mir selbst vieles andere als klar); er glaube sogar, dass die meisten Gefühle auf mechanische Weise ausgelöst und aufgebaut würden, nämlich als ein Austausch, eine Addition, eine Multiplikation von sinnlichen Reizen. Und ob er es für möglich halte, fragte ich weiter, dass auf diese Weise ein Gesicht bald gar nicht mehr von der Person erzähle, sondern eine ganz andere Geschichte – eine Geschichte, die für den
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