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Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Titel: Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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redete auf ihn ein und presste seine Arme an seinen Körper und hob ihn, der fast einen Kopf größer war als er, hoch und trug ihn, aber nicht zum Lastwagen, sondern hin und her und im Kreis herum, hätte nur der Donauwalzer gefehlt. Immer mehr Leute blieben stehen, aber sie hielten nun deutlich Abstand, und gelacht hat keiner mehr. Ich wunderte mich sehr über Momas Gesicht, wie es sich verzerrte, so dass ich erst meinte, es könne nicht sie sein, Hass war in ihrem Gesicht, aber vielleicht war es nicht Hass, sondern Angst oder Peinlichkeit, oder wie man das bei ihr nennen musste, wahrscheinlich anders, denn sie war der mutigste Mensch der Welt, und dass ihr irgendetwas peinlich sein könnte, wäre mir nicht in den Sinn gekommen. Mein Vater stellte Opa auf den Boden, nahm seinen Kopf zwischen die Hände und küsste ihn auf die Stirn und flüsterte ihm ins Ohr und presste ihm wieder die Arme zusammen. Moma hatte inzwischen eine zweite Spritze aus ihrer Tasche geholt und injizierte sie Opa in den Oberarm. Diesmal wehrte er sich nicht mehr.
    Meine Mutter sagte: »Wäre das nicht anders gegangen! Schau weg, András! Mach die Plane zu! Was hat er sich wieder für einen Unsinn ausgedacht!« Sie meinte meinen Vater. Ich sagte, ich wolle die Plane nicht zuziehen, es interessiere mich nämlich. Ich hielt es für sehr wahrscheinlich, dass von nun an unsere Familie nicht mehr funktionieren würde wie bisher.
    Ein Mann packte Moma an der Schulter und rüttelte sie und schrie sie an, aber sie sagte ihm etwas mitten ins Gesicht hinein, und da ging der Mann schnell weg, sehr schnell, und drehte sich nicht mehr um. Auch die anderen gingen schnell weg, und keiner drehte sich um. Ich an ihrer Stelle hätte gesagt, wenn Sie nicht sofort verschwinden, geht es Ihnen genauso wie dem alten Mann hier. Vielleicht hat sie das gesagt. Sie stand breitbeinig auf dem Gehsteig und nahm eine Ampulle aus ihrer Tasche und zog die eben gebrauchte Spritze neu auf, die dritte. Die war aber nicht mehr nötig. Opa bekam weiche Knie, er ging nieder und hätte mit der Hand bald den Boden berührt. Moma und mein Vater stützten ihn und führten ihn zum LKW. Opa sagte wieder »Oh! Oh!«, er rief es nicht, er schrie es nicht, er sagte es nur – als würde er irgendetwas anderes sagen und nicht »Oh! Oh!«. Mein Vater kippte ihn auf die Laderampe, hob ihn an den Beinen hoch, drehte ihn auf den Bauch und schob ihn unter der Plane hindurch. Opa sah aus wie ein eingerollter Teppich, das Gesicht lag auf dem welligen Metallboden des Lasters, und als ihn mein Vater von hinten schob, zog es ihm eine Braue und einen Mundwinkel nach unten, und nun sah er aus wie eine Figur aus der Geisterbahn im Vidámpark. Mein Vater drückte gegen Opas Schuhsohlen, bis seine Beine hinten nicht mehr über die Ladefläche standen, warf die Klappe in die Halterungen und zurrte die Plane von außen fest, und es war wieder stockdunkel. Ich hörte Opa neben mir husten und sich verschlucken. Und ich hörte, wie die Türen im Führerhaus zugeschlagen wurden, und der Wagen fuhr ab. Bald schnarchte Opa so laut, dass ich fürchtete, man könnte es draußen auf der Straße hören.
     

8
     
    So die Version, die ich in Wien, ein halbes Jahr nach dem Oktoberaufstand, erzählte. Bis hierher stimmte sie mit der Wahrheit überein – abgesehen davon, dass ich die Geschichte ein paar Monate vorverlegte, also behauptete, wir seien nicht Anfang Juni, sondern wie die anderen erst im November aus Ungarn geflohen. Aber ich spann weiter – die Fäden der Möglichkeitsform: dass Opa gestorben sei. Gegen Ende der Fahrt habe Moma auch meiner Mutter und mir ein Beruhigungsmittel gespritzt. Zwanzig Kilometer vor der Grenze seien wir stehen geblieben. Männer hätten gewartet, die haben Schilfrollen in den Laster geladen, bis oben hin. Sie haben uns gesehen und stumm gegrüßt, sonst nichts. Wir haben uns zwischen und hinter den Rollen versteckt, und weil das eng war und wir wenig Luft zum Atmen gehabt haben und deshalb Gefahr bestand, dass wir in Panik geraten und zuletzt noch alles auffliegt, hat uns Moma eben eine Spritze gegeben. Mir nur eine halbe. Opa hat keine mehr bekommen. Der hatte ja schon zwei. Ob wir dann weitergefahren seien? Ja, wir sind weitergefahren. Opa ist wahrscheinlich irgendwann aufgewacht und hat Panik gekriegt und hat geschrien. Aber niemand hat ihn gehört. Ja, ich denke, dass er geschrien hat. Warum ich denke, dass er geschrien hat? Weil er den Mund weit offen gehabt hat, als wir ihn

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