Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Titel: Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
Vom Netzwerk:
Kiliankaserne oder in der Corvinpassage gegen die Kommunisten gekämpft hat?«
    Die Frau unterbrach ihn zwar gleich und schüttelte tadelnd den Kopf zu ihm hin, aber ich sah ihr an, dass sie das Gleiche dachte.
    Ich kam mir blöd vor. Dass ich über einen – ihren – Kamm geschoren wurde, ärgerte mich. Ich hatte mir inzwischen in der Klasse, bei den Österreichern ebenso wie bei den Ungarn und auch bei den Ungarn in den anderen Klassen, auch bei den älteren Schülern, einen guten Ruf erworben. Ohne Frage, ich war der beliebteste Ungar der ganzen Schule; ich möchte sogar sagen, ich war der beliebteste Schüler überhaupt. Alle scharwenzelten in den Pausen um mich herum und versuchten, mich in ihre Gespräche zu ziehen, schenkten mir Briefmarken für meine Sammlung, die nicht existierte – zum Beispiel einen Ersttagsstempel vom Postamt in Traiskirchen mit der 2-Schilling-Sondermarke »Notopfer für Ungarn«, ich habe das Kuvert auf dem Heimweg in einem Gully versenkt –, oder sie teilten ihre Wurstbrote mit mir, brachten mir mit schönen Grüßen ihrer Eltern einen Pullover mit und Filzhausschuhe mit Blechklammern zum Verstellen oder gaben mir von ihren Süßigkeiten ab. Auch wenn mir klar war, dass dies vor allem meinem hübschen Gesicht, meinen mädchenhaft langen kastanienbraunen Haaren und meinem Lächeln geschuldet war, vor allem meinen herzigen Sommersprossen, fühlte ich mich dennoch geschmeichelt. Aber ich hatte der Versuchung der Eitelkeit stets widerstanden. Ich habe mich nicht herumreichen lassen. Im Gegenteil, ich machte mich rar. Ich erzählte nichts von mir. Auf diese Weise blieb ich ihnen rätselhaft. Ich war etwas Besonderes für sie. Obendrein konnte ich fehlerfrei Deutsch sprechen, als einziger Ungar. Sie baten mich, ihr Dolmetscher zu sein, Ungarisch–Deutsch, Deutsch–Ungarisch. Alle wollten etwas von mir, die Schüler wie die Lehrer; das war schon in Ungarn so gewesen. Als irgendwann ein Österreicher aus der letzten Klasse, ein unappetitlicher, eifersüchtiger Prolet, herumposaunte, ich sei in Wirklichkeit gar kein Ungar, meine Eltern hätten längst vor dem Aufstand in Wien gewohnt, wir wollten nur an die vielen guten Sachen herankommen, die man diesen sauberen Helden hinten und vorne hineinstecke, stellten sich alle fünfzehn Magyaren unserer Schule als meine Armee hinter mich, und es kam zu einer Rauferei – aus der ich als Sieger hervorging, nämlich als der einzige, der sich daran nicht beteiligt hatte. Das brachte mir bei den Österreichern ebenso viel Bewunderung ein wie bei den Ungarn und beim Direktor sowieso.
    Dass mir nun von Seiten dieses Mannes und dieser Frau so wenig Respekt entgegengebracht wurde, erfüllte mich mit Verachtung und verletzte meinen Stolz. Ich hatte es schon mit anderen Kalibern zu tun gehabt! Ich wollte bei ihnen die gleiche Methode anwenden wie bei dem freundlichen, rachsüchtigen ÁVH-Pärchen: Sie sollten sich die Geschichte, die sie von mir hören wollten, selber erzählen; ich würde sie führen, indem ich ihnen folgte; meine Antworten würde ich nicht aus der Wahrheit, sondern – wie der Kluge Hans – aus den Erwartungen zubereiten, die sich mir in Mimik und Gestik der Fragesteller offenbarten.
    Was dabei herauskam, hatte ich nicht gewollt: Ich habe meinen Großvater sterben lassen, habe aus Moma ein unberechenbares, machtlüsternes Monster gemacht – was sie höchstens zu fünfzig Prozent war –, habe meinen Vater zu Momas willenlosem Lakaien degradiert und meine Mutter als ein von Moma unterdrücktes, somnambules, gefühlloses Wesen vorgeführt – was zu dieser Zeit noch höchstens zu zwanzig Prozent zutraf. Und hatte damit die Aufmerksamkeit dieser zwei Heilsbringer erst recht auf mich und meine Familie gehetzt. Immer wieder fragten sie mich, ob ich ihnen »vielleicht doch noch etwas zu sagen« hätte, senkten ihre Stimme und bohrten, als wären ihre Augen Korkenzieher. Sie bestellten mich als einzigen zu einem zweiten und dritten und vierten Termin, nicht in die Schule, sondern in einen schlecht gelüfteten Büroraum im 9. Bezirk mit Blick auf das Hinterteil der Votivkirche, wo sie mir weitere Details über den Charakter meiner Mutter, meines Vater, vor allem aber über Moma aus dem Hirn quetschten und mich zwischendurch in den Arm nahmen, was das Unangenehmste an der ganzen Prozedur war. Und flüsterten mir ihre Fragen dabei ins Ohr.
     
    »Weißt du, dass wir dich sehr gern haben?«
    »Weiß nicht.«
    »Aber dass du uns vertrauen kannst,

Weitere Kostenlose Bücher