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Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Titel: Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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in Zeitungspapier und verbarg das kleine Paket in der Handtasche unter ihrem grauen Seidenschal. Sobald wir im Lastwagen wären, werde sie Opa eine Injektion in den Oberarm geben, sagte sie. Damit ihm die alte Angst erspart bleibe.
     
    Meine Mutter und ich waren pünktlich bei dem Lastwagen. Wir schlüpften unter die blaue Plane auf die Ladefläche und warteten. Unsere Koffer waren in ein Eck gestapelt, außerdem waren Decken da und einige Flaschen mit Wasser, zwei Brotlaibe und zwei in Zeitungspapier eingewickelte »Salamiprügel« (Opas Lieblingswurst und Lieblingswort). Uns war ein bisschen unheimlich, weil die Plane dicht schloss und wir uns nicht einmal gegenseitig sehen konnten. Und unbehaglich war uns auch; denn wir waren nie, jedenfalls nicht, seit ich mich erinnern konnte, miteinander allein gewesen – abgesehen von den wenigen Minuten, nachdem sie mich gefunden hatte und bis Dr. Balázs gekommen war. Ich spürte ihre Unruhe und sagte, sie könne sich an mir festhalten. Das tat sie auch. Sie umschlang meinen Arm und drückte ihr Gesicht auf meine Schulter. Sie sagte, es tue ihr vieles leid. Ich hatte keine Ahnung, was sie meinte. Sie versprach, in unserem neuen Leben werde sie sich mehr um mich kümmern, ich solle ihr vergeben. Ich hatte wieder keine Ahnung, was sie meinte. Sie atmete tief ein und tief aus, wie es die Gewichtheber tun, bevor sie die schweren Ringe nach oben reißen. Erst vor ein paar Tagen hatte mich mein Vater in einen Gewichtheberverein nach Soroksár mitgenommen. Früher sei er manchmal hierhergekommen, um zu trainieren, hatte er erzählt. Er spiele außerdem gern Fußball. Und Tischtennis auch. Wenn ich Interesse hätte, werde er mich einmal mitnehmen, zum Fußball und zum Tischtennis. Wir hatten nicht viel miteinander gesprochen. Es war schön gewesen.
    »Weißt du«, sagte meine Mutter, »du bist ein eigenartiges Kind.«
    Ich antwortete nicht.
    »Willst du nicht wissen, was ich damit meine?«
    Warum sollte ich das wissen wollen? Ich würde dabei nichts über mich erfahren. Ich würde erfahren, warum mich meine Mutter eigenartig findet. Aber wollte ich das wissen? Ich fand sie auch eigenartig. Ich fand alle Menschen eigenartig – alle außer Moma.
    »Es geht mir nicht besonders gut, wenn ich neben dir sitze und du nicht mit mir sprichst«, sagte sie.
    »Ich spreche ja«, sagte ich.
    »Sag einmal etwas Liebes zu mir. Du hast so hübsche Sommersprossen und ein so hübsches Lächeln. Aber alles nicht für mich. Alles nicht für mich.«
    Ich dachte, es würde ihr besser gehen, wenn ein Streifen Licht hereinfiele, und tat, was uns Moma strikt verboten hatte, ich zog die Plane ein wenig beiseite.
    Sie rückte von mir ab, als dürfe man uns bei Licht nicht eng beieinander sehen. Wenn, dann war ihre Sorge umsonst. Wir konnten sehen, aber nicht gesehen werden. Sie beruhigte sich allmählich.
    »Du bist ein eigenartiges Kind«, sagte sie noch einmal. Mehr Erziehung habe ich von ihr nicht erfahren.
    Ob mein Vater bereits im Führerhaus saß? Gehört haben wir ihn nicht. Wir lehnten an der Rückwand des Lasters und warteten, bis wir Moma und Opa die Straße heraufkommen sahen.
     
    Moma hatte den Arm um Opa gelegt, und sie lachten, als würden sie sich Witze erzählen. Dann sah ich, wie Moma die Hand von Opa löste, wie sie die Knöpfe ihrer Handtasche öffnete und ohne hinzusehen aus dem Zeitungspapier eine Spritze nahm und wie sie ihm die Nadel mit einem Ruck durch den Ärmel seiner Jacke in den Oberarm rammte. Er schrie auf und stieß sie von sich, starrte sie an und rief »Oh! Oh!« und hastete die Straße hinunter, woher sie gekommen waren. »Oh, du, du auch! Du auch! Oh, Himmel. Oh, heiliger Himmel, du auch!« Moma lief ihm nach, erwischte ihn am Ärmel und drehte sich um ihn herum, weil er auf ihre Hand einschlug und nach ihren Haaren griff und gegen ihre Beine zu treten versuchte. In immer längeren Schritten lief sie um ihn herum, als ob sie mit ihm Karussell spielen wollte oder er mit ihr, und dabei schimpfte sie auf Ungarisch, wie sie es früher in der Küche getan hatte, und hielt die Spritze noch zwischen ihren Fingern wie der Anonymus seinen Griffel. Passanten blieben stehen und schüttelten den Kopf und hoben die Hand vor den Mund. Es sah ja auch wirklich komisch aus. Opa schleuderte Moma von sich, sie rutschte aus und fiel hin, und die Spritze rollte über das Pflaster. Ich hörte, wie jemand aus unserem LKW stieg, und sah meinen Vater auf Opa zulaufen. Er umschlang ihn und

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