Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)
Sammelbildchen von der Fußballweltmeisterschaft 1954 in Bern, wo Ungarn als Favorit selbstverständlich ins Finale gekommen war, am Ende aber Deutschland gewonnen hatte. Ich war der Dolmetscher, selbst erzählte ich nichts; aber aus meinem Mund hörten sie die Geschichten, und in mein Gesicht schauten sie dabei.
Und dann, eben ein halbes Jahr nach dem Aufstand, als sich die erste Aufregung gelegt und die Grenzen nach Ungarn längst geschlossen worden waren, kamen ein Mann und eine Frau in die Schule, und wir Ungarn wurden allesamt ins Konferenzzimmer zu geviertelten Topfengolatschen eingeladen. Ich habe nicht richtig zugehört, als uns der Direktor die beiden vorstellte, ich nehme an, sie waren Psychologen oder Historiker oder Journalisten oder Leute von der Regierung oder von der Kirche oder von einer Hilfsorganisation. Sie wollten uns interviewen. Ich schätzte die beiden als harmlos ein. Sie sagten, sie würden sich sehr viel Zeit für uns nehmen, für jeden einzelnen von uns. Sie sagten, sie wünschten sich, dass jeder einzelne von uns – vorausgesetzt, unsere Erziehungsberechtigen würden damit einverstanden sein – seine »ganz persönliche Geschichte« erzähle, denn sie hielten es für richtig und wichtig, dass all das, was geschehen sei, nicht vergessen werde. Unsere Geschichten würden, wer weiß, eines Tages veröffentlicht werden, aber wenn, dann auf alle Fälle nicht unter unseren Namen. Das gaben sie uns schriftlich.
Jeder von uns kam dran. Jeder einen ganzen Nachmittag lang. Bei Topfengolatschen und Himbeersaft. Sie nahmen die Geschichten auf Tonband auf, jedem wurde ein Mikrophon vor die Nase gerückt. Als letzten befragten sie mich. Deshalb, weil ich die Erlaubnis meiner Erziehungsberechtigten als letzter abgegeben hatte. Ich habe das Papier selbst unterschrieben. Ich tat es, um die Aufmerksamkeit der beiden von unserer Familie abzulenken. Ich wusste, mein Vater und meine Mutter würden mir verbieten, mit diesen Menschen zu sprechen. Dafür gab es Gründe. Aber – ich wäre der einzige gewesen; ich wäre zu einem Fall geworden; unsere Familie wäre zu einem Fall geworden. Die beiden guten Menschen hätten sich gefragt: Was ist mit denen? Was haben die zu verheimlichen? Wir wollen Gutes. Wollen die nicht auch Gutes? Und wären zu guter Letzt zu uns nach Hause gekommen, um sich diese Fragen beantworten zu lassen. Das wollte ich nicht. Ich erfand irgendwelche Erwachsenenschriften, unterschrieb gleich zweimal, für meine Mutter und für meinen Vater, was nicht notwendig gewesen wäre. Vor beider Namen setzte ich ein Dr mit Punkt.
Meine Eitelkeit ist mit mir durchgegangen. Anstatt irgendetwas zu erzählen, irgendeinen unauffälligen Heldentatenverschnitt, packte mich der Ehrgeiz, die beiden zu lenken, wie ich erst vor einem Jahr zwei andere Schlauberger, nicht so harmlose wie diese, gelenkt hatte: indem ich ihnen auf dem Weg durch ihre gierigen Gehirne folgte und ihnen durch »Ja«, »Nein« und »Ich weiß nicht« als Wirklichkeit bestätigte, was dort als Phantasie archiviert war.
9
Als ich mit den beiden im Konferenzzimmer saß, merkte ich sehr bald, dass ihr Interesse an den Ungarngeschichten inzwischen deutlich nachgelassen hatte. Sie waren nun schon über einen Monat lang zweimal in der Woche in unsere Schule gekommen, die Geschichten waren alle irgendwie ähnlich und durch Tausch und Verschiebung sogar noch ähnlicher geworden, die Rollen waren immer die gleichen – es gab nur heldenhafte Opfer, Wunder und Wunden. Sie hatten längst gehört, was sie hören wollten; und was sie hören wollten, stimmte mit dem überein, was sie sich von Anfang an erwartet hatten. Ich glaube, sie hätten sich die Geschichten selbst ausdenken und niederschreiben können, ein Bastelstück aus dem, was in den Zeitungen gestanden hatte und was im Radio gesendet worden war (aus den Sendungen allein von Radio Free Europe wäre genug Material für beliebig viele Lebensläufe zur Verfügung gestanden). Sie hatten die Nase voll von all den politischen Abenteuerromanen, die ebenso wahr wie unwahr sein konnten, in denen Grausamkeiten vorkamen wie im Märchen, bizarr, aber kindertauglich, weil eh nur symbolisch. Vielleicht waren ihnen überhaupt Zweifel an ihrem Plan gekommen. Wer würde sich dafür noch interessieren? Wer würde ein Buch voll solcher Geschichten jetzt noch lesen wollen?
Die erste Frage, die der Mann an mich richtete, war: »Hast du auch einen Helden zum Bruder oder zum Onkel, der in der
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