Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)
fanden. Zu Hause hat er manchmal in der Nacht geschrien, und am Morgen hat er erzählt, er habe geträumt, er sei in einem Sarg gelegen und habe gehört, wie die Nägel eingeschlagen werden, und habe gewusst, wenn der letzte Nagel eingeschlagen ist, wird er tot sein. Ich hatte ihn auch schon während eines Mittagsschlafes schreien hören, und dabei hatte er den Mund ähnlich weit aufgerissen gehabt wie jetzt. Mama und ich haben ihn nicht gehört, weil überall das Schilf um uns herum war und der Wagen geholpert hat und wir wegen der Spritze einen Dusel hatten. Und Moma und mein Vater vorne im Führerhaus haben sowieso nichts gehört wegen des Motorenlärms. Opa ist an einem Herzschlag gestorben. Es ist kein Arzt gekommen, nein. Ich habe keinen Arzt gesehen. Er ist erstickt. Vor Angst ist er gestorben. Vor Müdigkeit gestorben. Ja, er hat gehört, wie der letzte Nagel eingeschlagen wurde. Hundert Meter von der Grenze entfernt, mitten im Feld neben einem Sumpf, mussten wir aussteigen. Mein Vater hatte den Lastwagen nur geliehen. Verabredet war, er solle ihn einfach hier stehen lassen. Später würden Männer kommen und ihn abholen. Als wir ausstiegen, haben wir Opa gefunden. Was wir gemacht haben? Ich weiß es nicht mehr. Stimmt nicht, ich weiß es. Wir haben ihn im Sumpf begraben. Wir haben ihn eingewickelt in die Schilfballen und haben ihn verbrannt. Nein, begraben. In den Sumpf gelegt, und er ist einfach abgetaucht. Nein, mein Vater hat seinen Leichnam den Männern übergeben, die den Laster abgeholt haben, und die haben versprochen, ihn richtig zu begraben. Moma hat ihnen Geld zugesteckt. Ich habe die Männer nicht gesehen. Entschuldigung, ich habe die Männer gesehen. Nein, doch nicht. Ich weiß es nicht. »Ich weiß es nicht!«, rief ich. »Ich weiß es nicht! Ich weiß es nicht! Ich weiß es nicht, ich schwöre!« Und drückte die Hände vors Gesicht. Das hatte großen Eindruck hinterlassen.
Allein in unserer Klasse waren vier Ungarn, an unserer Volksschule in Wien Meidling insgesamt fünfzehn, und jeder von ihnen hatte beeindruckende Geschichten hinter sich, die konnte sich kein Mensch ausdenken. Alle Geschichten waren politisch und heldenhaft – dass der Vater oder ein Onkel oder der Bruder bei der Kiliankaserne oder in der Corvinpassage mitgekämpft oder bei der Zerstörung des großen Stalindenkmals am Rand des Stadtparks mitgeholfen habe oder wenigstens dabei gewesen sei. Einer, ein schmächtiges Engerl, berichtete, wie er eigenhändig, nämlich mit zwei Molotowcocktails in jeder, einen T-34-Panzer in die Luft habe gehen lassen, dass die Helme der russischen Soldaten nur so über die Üllöistraße gehüpft seien; er kannte die Namen von Maschinengewehren – »russische Gitarren« –, Sturmgewehren, Armeepistolen, Geschützkalibern, ML-20, das ist die sowjetische 152-mm-Kanonenhaubitze, oder M-60, die 107-mm-Divisionskanone, und er konnte in einer beeindruckenden Pantomime zeigen, wie man mit einer Handgranate umgeht. Ein anderer wusste von einer Tante Mariska, die bei dem Massaker vor dem Parlament ums Leben gekommen sei, aber nicht, ohne vorher einem Russen einen Pflasterstein an den Slawenschädel gehauen zu haben. Dem hielt ein vierter dagegen, seine beiden Großeltern seien in Mosonmagyarónár in der Nähe der österreichischen Grenze zusammen mit fast sechzig anderen von der Grenzwache erschossen, aber noch am gleichen Tag gerächt worden. Höhepunkt war die Erzählung eines Mädchens aus Miskolc. Sie war Zeugin gewesen, wie die Aufständischen den Leiter der Kriminalpolizei im Blut eines toten Pferdes gewälzt, ihm die Hose heruntergerissen, seinen Penis untersucht und, als sie ihn als beschnitten diagnostiziert, den Mann am Denkmal der russischen Befreiung gelyncht hatten, mit der Begründung, er hänge hier stellvertretend für die Juden Rákosi, Péter, Farkas, Gerö, Revai. Über seinen Penis hängten sie ein Stück Pappe, es waren schließlich auch Kinder anwesend, darauf schrieben sie: Hátra van még a feketeleves. Ich übersetzte: »Die schwarze Suppe kommt erst jetzt.«
Die Geschichten wurden unter den Ungarn an der Schule verschoben und getauscht wie Briefmarken; einer erlaubte dem anderen, Teile zu übernehmen und sie als die seinen weiterzuerzählen. Unsere österreichischen Mitschüler bezahlten fürs Zuhören mit Semmeln, in denen mit Schokolade überzogene Zuckercremstangen steckten, oder mit Orangen oder Feigen vom Naschmarkt – oder für besonders schauerliche Geschichten mit
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