Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)
ausgezogen, und Opa habe sich vorübergehend mit einer anderen Frau zusammengetan. Aber als ich zur Welt kam, sei alles wieder gut geworden.
Mein Vater hatte Moma überzeugen können, dass er über Beziehungen verfügte, die es ihm nicht nur ermöglichten, Märklin -Metallbaukästen und Suppenwürfel in Ungarn einzuführen, sondern auch Menschen aus Ungarn auszuführen. Im Gegenzug würde er als gleichberechtigtes Mitglied, also auch als erbberechtigtes Mitglied, in die Familie aufgenommen. – So der Deal. Wenn ich recht habe.
Die Zeiten hatten sich geändert. Es schien so. Zunächst schien es so. Mátyás Rákosi war entmachtet, Gábor Péter war verhaftet, sein Stellvertreter und einige Dutzend aus seiner Bande waren mit dem Tod oder mit Gefängnis bestraft worden. Man hörte, dass die Menschen in Russland auf den toten Stalin schimpfen durften; ja, dass, wer das nicht tat, Gefahr liefe, in Ungnade zu fallen. Aber dann änderten sich die Zeiten abermals. Mátyás Rákosi wurde wieder mächtig, und Gábor Péter schickte sich an, seine Arbeit erneut aufzunehmen, und man bedauerte, dass Fachkräfte wie Major György Hajós und Oberst Miklós Bakonyi fehlten und treue Genossen wie Janko Kollár, Lajos Szánthó und Zsolt Dankó naturgemäß nicht mehr in der Lage waren, dem Sozialismus zu dienen, und man zog jene zur Rechenschaft, die ihre Unterschrift unter die Urteile gesetzt hatten.
Im Juni 1956 stand mein Vater eines Morgens plötzlich mitten im Salon, als wäre er aus dem Fußboden gewachsen – ich war gerade im Begriff, mich auf den Weg zur Schule zu begeben –, und sagte, er habe die ganze Nacht nicht geschlafen, aber das sei nicht tragisch. Er entschuldigte sich bei Moma, dass nun leider doch alles sehr geschwind geschehen müsse, und bat sie, es uns zu erklären. Moma legte den Zeigefinger auf ihren Mund und wies Mama und mich in die Küche. Sie wollte nicht, dass Opa zuhörte. In der Küche sagte sie und flüsterte dabei, sie werde uns nichts erklären, dafür sei keine Zeit; wir sollten zusammenpacken, was wir für notwendig erachteten, in exakt zwei Stunden warte an der Ecke Báthory utca/Bajcsy Zsilinszky út ein Lastwagen mit einer blauen Plane auf uns. Um unser Gepäck brauchten wir uns nicht zu kümmern, das würde mein Vater auf verschiedenen Wegen Stück für Stück zu dem Laster schaffen. Mama und ich sollten, und zwar einzeln und in Abständen von drei, vier Minuten, losgehen und uns schnurstracks auf die Ladefläche unter die Plane begeben. Und still sein. Egal, was passiere. Sie und Opa würden als letzte kommen, gemeinsam, weil Opa schwer berechenbar sei und sie es nicht riskieren wolle, ihn allein gehen zu lassen. Außerdem sei die Wahrscheinlichkeit, dass Opa noch immer oder inzwischen wieder observiert werde, sehr groß. Es werde bittschön niemand im Ernst glauben, die beiden freundlichen ÁVH-Leute hätten András – mich – aus einem freundlichen schlechten Gewissen heraus besucht und eine Stunde lang verhört. Mein Vater werde den Laster fahren – wohin, sagte Moma nicht, nicht in meiner Gegenwart.
Ich wollte meine beiden Metallbaukästen mitnehmen – nur sie, sonst nichts. Aber die Teile waren bis auf den letzten eingesetzt und verschraubt zu einer neuen Krananlage, an der ich zwei Wochen gebaut hatte, höher als ich groß. Das Auseinandernehmen und Einräumen hätte mehr als zwei Stunden gedauert. Es war nicht nötig, mir das zu erklären; und ich wusste auch, es würde keinen Erfolg haben, wenn ich Moma bäte, uns mehr Zeit zu geben, oder wenn ich versuchte, durch Weinen oder Schmollen meinen Willen durchzusetzen. Das war außerdem nicht meine Art. Ich legte die Hände auf dem Rücken ineinander, warf einen letzten Blick auf die Konstruktion, drehte mich um und stapelte Unterwäsche, Hemden, Socken, meinen königsblauen Samtpullover und meinen Schlafanzug in den kleinen Pappkoffer, den mein Vater mitgebracht hatte – und war ein anderer, nämlich einer, der keine Märklin -Metallbaukästen besaß.
Moma schärfte meiner Mutter und mir ein, Opa ja nicht wissen zu lassen, was vorgehe. Das würde ihn nur unnütz aufregen. Wir sollten so tun, als würden wir wie immer das Haus verlassen, um unserem Tag nachzugehen, ich in der Schule, meine Mutter an der Universität. Sie nahm aus dem Medizinschrank über dem Brotkasten drei Spritzen und ein Dutzend Ampullen mit einem Beruhigungsmittel, feilte die Köpfe von drei Glasfläschchen und zog die Spritzen auf. Sie wickelte alles
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