Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)
In Wahrheit hatte ich gegen die Riege der Sesshaften nie die geringste Chance gehabt. Ich fühlte mich betrogen. Erst hatten sie mich wie einen Touristen behandelt, dann wie einen Gast, inzwischen gingen sie mit mir um wie mit einem Freund. Sie lobten mein Spiel, aber sie wurzten mich.
Ich hoffte, Sebastian nicht anzutreffen.
Ich beobachtete ihn in den nächsten Tagen. Entweder er ließ sich nichts anmerken, oder er wusste tatsächlich nichts. Tagsüber war ich zu Hause und saß am Computer, und er war irgendwo draußen. Er spazierte stundenlang in der Umgebung von Wien durch Wälder und über Felder. Entweder er dachte nach, oder er versuchte, nicht nachzudenken. Wir trafen uns zum Abendessen und zum Frühstück, aber selten. Zwischen ihm und Evelyn war einiges gut geworden. Eine versöhnliche Traurigkeit schwebte über ihren Gesprächen. Die meisten Nächte verbrachte er bei ihr. Er hatte mich gefragt, ob es mich störe, allein in der Wohnung zu sein. Ich stellte mich darauf ein, mich heimlich aus dem Staub zu machen. Wollte vorher seine Jacken und Hosen nach Geld absuchen. War voll dumpfen Gleichmuts, eigensinnig und dumm wie der gemeinste Erdensohn.
Ich hatte Glück. Die Sesshaften fanden Gefallen an mir. Und hatten Verwendung für mich. Das heißt, sie fanden Gefallen an dem Russen. Sie meinten, ein vornehmer Russe locke Kundschaft an. Sie überließen mir einen eigenen Tisch. Und sie gaben mir Kredit. Sie saßen wie Spinnen in ihren Netzen und warteten auf Beute. Nachdem sie mich bis auf die Knochen gewurzt hatten, verwendeten sie mich als Investition. Im Sommer kamen die Touristen in die Stadt. In einem der Fenster des Lokals lehnte ein Schild, auf dem stand »Schachcafé«. Darunter wurde nun ein Streifen geklebt mit der Aufschrift: »Zur Zeit zu Besuch: ein russischer Großmeister«.
Ich spielte nicht so gut wie die Sesshaften, und es würde über die Spanne meines Lebens hinaus dauern, sie einzuholen. Aber das war nicht nötig. Die meisten Wanderer, die im Café auftauchten, waren mittelmäßige Schachspieler, die in ihren Clubs ohne Zweifel als Cracks galten, aber hier sehr schnell alt aussahen. Ich verlor gegen die Sesshaften, gegen die Wanderer gewann ich allemal. Die Sesshaften waren überqualifiziert. Sie hatten nicht einmal mehr Freude an ihrem Können, so groß war ihr Können. Sie waren trainiert für den Himmel der Schachspieler, der bestimmt ähnlich aussah wie das Raucherabteil des Cafés, nur größer, und wo die Sesshaften Namen hatten wie Adolf Anderssen, Paul Morphy, Wilhelm Steinitz, Johannes Hermann Zukertort, José Raúl Capablanca und Bobby Fischer, der erst vor wenigen Wochen in Reykjavík gestorben war.
Über den Sommer brachte ich so viel Geld zusammen, dass ich nicht nur die Schulden bei Sebastian zurückbezahlen konnte, sondern darüber hinaus ein ordentliches Bündel in die eigene Blechbüchse – bildlich gesprochen – stecken durfte. Die Schachtouristen waren wild darauf, gegen den russischen Großmeister zu spielen. Während sie darauf warteten, an seinem Tisch Platz nehmen zu dürfen, spielten sie, um sich die Zeit zu verkürzen, gegen die anderen – und wurden gewurzt. Ich freute mich nicht mehr über meine Siege und ergötzte mich nicht mehr an den Niederlagen jener, die sich bis zu diesem Abend für große Talente gehalten hatten und nun mit bitterem und unversöhnlichem Hochmut auf uns herabblickten, weil sie uns aus irgendwelchen Gründen nicht für würdig hielten – wenn man einem Gegner nicht gewachsen ist, verdächtigt man seine Motive –, es aber auch nicht über sich brachten, einfach zu gehen, stattdessen vorne im Café eine Kleinigkeit aßen und nicht wussten, was wir wussten, nämlich dass ihre Verliererdepression schon bald in Euphorie umschlagen würde und sie keinen größeren Wunsch hätten, als uns, den Verachteten, ihr allerletztes Geld zu überlassen.
Nach der Sperrstunde wurde der Profit zusammengelegt und geteilt. Ich war ein Sesshafter. Dass ich kein Russe war, verriet ich meinen Kollegen nicht.
An einem Sonntag lud ich Sebastian und Evelyn zum Abendessen in die Innenstadt ein. Groß. In die Cantinetta Antinori in der Jasomirgottstraße. Die Kellner kannten den Schriftsteller und behandelten ihn mit Respekt. Eine Frau trat an unseren Tisch und bat ihn, eines seiner Bücher für sie zu signieren – »für Caroline, bitte, mit lieben Grüßen, oder so« –, sie habe das Buch bei sich, nicht zufällig, sondern weil sie nicht anders könne,
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