Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)
als ununterbrochen darin zu lesen, sie habe Sorge, was aus ihrem Leben werde, wenn sie damit fertig sei. Sebastian freute sich sehr.
In dieser Nacht schlief Evelyn allein in ihrer Wohnung. Sebastian und ich aber saßen in der Küche in der Heumühlgasse, und ich erzählte weiter aus meinem Leben. Es war die zweite Nacht. Tausendundeine würden es nicht werden. Ein Dutzend aber schon.
So verging der Sommer, und es wurde Herbst. Der Freund behielt mich bei sich; nie haben wir gestritten; meistens habe ich ihm die Wahrheit gesagt. Die beiden verreisten für ein paar Tage, nach Triest und Venedig, ich habe sie dazu überredet. Ich passte auf Sebastians Wohnung auf, goss die Tomaten auf dem Dach, passte auf Evelyns Wohnung auf, fütterte und spielte mit der Katze Pnin. Ich tat dies und das, drückte mich in der Nationalbibliothek herum und auf Ämtern und brachte heraus, dass Moma 1994 im Alter von einundachtzig Jahren im Sanatorium Döbling gestorben war. Ich suchte auf dem Döblinger Friedhof nach ihrem Grab, fand es aber nicht. Ich war nicht traurig. Sie war bei mir gewesen, bevor ich Ich sagen konnte. Das bedeutet sehr viel, denke ich. Über unsere letzte Begegnung im Café Landtmann habe ich im Präsens geschrieben. Das ist mein Chapeau! an sie.
Ich habe nicht das große Geld verdient, aber das kleine. Wie Quique Jiménez gesagt hatte: Auf das große Geld kann man getrost ein Leben lang warten, das kleine braucht man immer, und immer braucht man es sofort.
8
Am frühen Nachmittag des 15. Oktober 2008 – ein stürmischer, regnerischer Tag, ich kam vom Naschmarkt und den umliegenden Läden, in beiden Händen Plastiksäcke voll mit Lebensmitteln, Putzmitteln und Toilettenartikeln, stemmte mich gegen den Wind, sperrte das Tor auf – spürte ich einen Stich in der Brust, ich hüstelte ihn weg, dachte, ich hätte mir etwas an den Bronchien geholt, drückte auf den Knopf beim Lift, stieg in die Kabine, und als sich die Tür geschlossen und der Lift in Bewegung gesetzt hatte, war das Stechen wieder da, und beim nächsten Atemzug war es ein Schmerz, so vernichtend, dass ich meinte, in die Knie zu gehen. Es hätte nicht der detaillierten Beschreibungen der Mittwochabendrunde im Wickerl bedurft, um mir klarzumachen, dass ich einen Herzinfarkt hatte.
Ich besaß kein Handy. Sebastian war nicht zu Hause. Es hatte keinen Sinn, ganz nach oben zu fahren, dort gab es niemanden, der mir helfen könnte. Ich drückte auf den Knopf im zweiten Stock. Aspirin musste ich schlucken. Jemand musste die Rettung rufen.
Ich stieg aus, die Plastiksäcke mit meinem Einkauf zog ich aus dem Lift. Damit der Lift nicht blockiert wäre, wenn die Rettung käme.
Ich klingelte bei der Tür gegenüber und bei der Tür links hinten, und bei der Tür rechts hinten klingelte ich auch.
Niemand öffnete.
Der Schmerz ließ ein wenig nach.
Ich ging langsam über die Stiege hinunter, wollte bei den Wohnungen im ersten Stock klingeln. Auf halbem Weg setzte das Gefühl der Enge wieder ein, auch der Drang zu hüsteln, es war, als zwängte sich mein Herz durch ein Nadelöhr. Ich hockte mich auf die Stufen nieder.
Der Schmerz war so heftig, dass ich meinte, jetzt müsse ich sterben.
»Aspirin, bitte, und die Rettung«, sagte ich.
Ich konnte nicht abschätzen, wie laut ich sprach. Ich wiederholte es nach dem nächsten Atemzug und wiederholte es immer wieder.
Ich versuchte aufzustehen, hielt mich am Geländer fest.
In der Brust schwoll ein heißes Brennen an, meine Lunge schien zu schrumpfen, so dass ich nur kleine Züge nehmen konnte.
Ich hörte eine Stimme über mir. Eine Frau fragte, ob hier jemand sei.
Ich sagte: »Bitte! Aspirin, bitte, die Rettung.«
Dann sah ich die Frau, sie stand auf dem Stiegenabsatz und hatte ihr Handy am Ohr.
Ich verlor das Bewusstsein nicht, taumelte aber zurück, fing mich am Geländer und setzte mich wieder auf die Stufen. Sie setzte sich neben mich.
Nach wenigen Minuten war die Rettung vor dem Haus.
Ein Mann sprühte mir eine Flüssigkeit in den Mund. Es war Nitroglyzerin. Die Wirkung war prompt. Ich fühlte mich frei und leicht in der Brust und optimistisch und unternehmungslustig und glaubte, man erwarte etwas Witziges von mir. Ich sagte, ich wolle selber bis zum Rettungswagen auf der Straße gehen. Die Sanitäter erlaubten es nicht, sie trugen mich auf einer Bahre nach unten. Ich bat die Frau, Sebastian zu verständigen, und bedankte mich bei ihr. Sie hatte auf der Stiege meine Hand gehalten. Sie hatte
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