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Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Titel: Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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Prüfung gern ausgewichen, hatte deshalb versucht, Evelyn zu überreden, mit uns zu sein.
    Ich freute mich auf das Bier. Und auf die Zigaretten. Außerdem hatte Sebastian eine Spezialität aufgetrieben: eine DVD mit dem größten Boxkampf aller Zeiten – Muhammad Ali gegen Joe Frazier am 1. Oktober 1975 auf den Philippinen, called Thrilla in Manila . Nach Alis Aussage hatten Frazier und er den Ring als kräftige Fighter betreten und als gebrochene Greise verlassen. Sebastian erzählte, er habe in Brooklyn eine Zeitlang über einem Gym gewohnt, dessen Besitzer seine Freunde gewesen seien. Die DVD behielten wir uns vor, falls uns das Schachspiel nicht so viel Vergnügen bereiten sollte wie vor fünfundvierzig Jahren, als wir in der Gemeindegutstraße Nummer 6 in Nofels gespielt hatten, bis der Himmel hell geworden war. Damals hatte ich verloren, jedes Mal. Sein Pate, der Mathematikprofessor, hatte ihm das Spiel im Alter von zehn Jahren beigebracht und ihm ein paar gefinkelte Tricks gezeigt, die ich nicht durchschaute und auf die ich sogar noch hereinfiel, nachdem er sie mir erklärt hatte.
    Ich hätte inzwischen einiges dazugelernt, warnte ich Sebastian, sagte freilich nicht, wo und von wem ich unterrichtet worden war. Ich hatte ihm bisher nichts von mir erzählt. Und wohnte nun immerhin seit zehn Tagen hier. Er hatte auch nicht viel erzählt. Seine Biographie stand nicht zur Disposition. Meine ja.
    Wir spielten auf dem alten Brett mit den alten Figuren. Ein schwarzer Läufer und zwei weiße Bauern fehlten. Statt des Läufers stellten wir eine Streichholzschachtel zwischen Springer und Dame, die Bauern ersetzten wir durch Würfelzucker. Ich gewann die erste Partie und gewann auch die zweite. Quique Jiménez hatte tatsächlich gute Erziehungsarbeit geleistet. Der Unterschied in der Didaktik des Mathematikprofessors und der des Gefängnisinsassen bestand darin, dass ersterer das Spiel zum Zweck des ästhetischen Genusses gespielt hatte und nicht in der Absicht, damit Geld zu verdienen, letzterer aber nur. Quique Jiménez’ Motive erleichterten es dem Spieler, zwischen Wesentlichem und Unwesentlichem zu unterscheiden; der Sinn nach dem Schönen hingegen lässt sich ohne große Gewitztheit ablenken und irreführen. Meine zweite Lehre hatte ich bei Frau Prof. Jirtler absolviert. Ihre stärksten Gegner bis zu meinem Erscheinen an der Universität waren ihre Vorgesetzte, Rektorin Dr. Mechthild Jauch, und ihre namenlose Führungsoffizierin von der Stasi gewesen. Beide Damen hielt sie für weit unter sich stehend, sowohl was ihre intellektuellen Fähigkeiten als auch was ihre Integrität als Humanistinnen und Kommunistinnen betraf. Ein Sieg im Spiel gegen die beiden rückte für ein paar Minuten die Welt wieder zurecht. Frau Prof. Jirtler spielte, um die Moral zu retten, Ruhm und Ehre interessierten sie nicht. Dieses Motiv ist rein. Es verleiht dem Spieler die Kälte und Unbarmherzigkeit eines seelenlosen Wesens; verwandelt den Spieler selbst gleichsam in eine Figur. Er wird immun gegen Irritationen von außen, deren gefährlichste Antipathie und Sympathie für den Gegner sind. Ich hatte versucht, in mir den Impetus des Kriminellen mit dem der Biologin zu vereinigen. Meine Recherchen ergaben, dass Bobby Fischer, der Muhammad Ali des Schachs, ähnlich tickte. Er spielte für das Gute in der Welt, indem er gegen den Kommunismus spielte, und er spielte in die eigene Tasche, nur dass sein Mammon Ruhm hieß. Ich studierte Fischers Partien, lernte einige auswendig, suchte in ihnen jene Momente, in denen seine Gegner in die Siegerspur hätten einfädeln können, analysierte zum Beispiel die Partie gegen Reuben Fine von 1963 – Fischer war gerade zwanzig – oder die dritte, fünfte, sechste und einundzwanzigste Partie der Weltmeisterschaft 1972 gegen Boris Spasski. Ein Handicap hatte ich: Ich musste so tun als ob. Denn ich besaß weder eine Moral, für die ich fechten wollte, noch war aus meiner Gegnerin Geld herauszuholen. Dennoch: Am Ende hatte ich Frau Prof. Jirtler, die Schachmeisterin der Humboldt-Universität zu Berlin der Jahre 1978 , 1979 , 1980 und 1981 , besiegt. Sie hielt mich für ein As, für moralisch integer und für einen Philosophen in der Nachfolge des Sokrates …
     
    Als ich in kurzer Zeit zehn Spiele in Serie gewonnen hatte, beschloss ich, Sebastian mein Leben zu erzählen. Ich wollte bezahlen. Für Kost, Logis und Liebe. Mehr als mein Leben hatte ich nicht zu bieten.
    Animiert durch das Schachspiel, begann

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