Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)
versteckten. Ich glaubte, um die Stirn eine Spur von Verzagtheit zu erkennen, einen Kummer. Kummer lenkt ab. Er blickte auch immer wieder auf sein Handy, schrieb immer wieder ein SMS. Wie erwartet, ließ er mich gewinnen. Er hatte brav gespielt, jeder Zug hinter mir her, auf mich reagierend, hatte kein einziges Mal die Initiative übernommen. Ich kassierte zehn Euro und gab Revanche. Er änderte seine Taktik nicht, blieb ebenso phantasielos zahm wie beim ersten Spiel. Auch ich verließ mit keinem Zug ein konventionelles Muster. Ich gewann und kassierte fünfzehn Euro. Beim dritten Match zog er an, eröffnete mit einem Gambit, das ich prompt annahm, ich wollte ihn zwingen zu gewinnen. Er stellte sich dumm und verlor abermals. Ich sagte, ich hätte genug. Ich rechnete damit, dass er Revanche verlangte. Und endlich würde es losgehen. Keine Reaktion. Er nickte, zahlte ohne ein Wort, erhob sich, begab sich in den Nichtraucherteil, tippte während des Gehens eine Nummer in sein Handy. Ein anderer nahm seinen Platz ein. Zwei Spiele ließ er mich gewinnen, dann machte er mich fertig. Ich verlor alles. Es war so schnell gegangen, dass ich mir den Ablauf der Partien nicht gemerkt hatte.
Ich war zuversichtlich, dass Sebastian nicht auffiel, wenn drei, vier, fünf Hunderter fehlten. Ich wusste nicht, woher das Geld in seiner Reserve stammte, ob von Vorlesungen, bei denen ihm die Gage schwarz bezahlt worden war, oder ob er es korrekt von der Bank abgehoben hatte, um Bares im Haus zu haben. Ich glaubte nicht, dass er nachzählte. Wenn er einen Taxifahrer mit einem großen Schein bezahlte, steckte er das Wechselgeld ohne einen Blick darauf ein. Er besaß keine Geldbörse, verteilte Scheine und Münzen in Hosentaschen, Jackentaschen, Manteltaschen. Er war sehr vertrauensvoll mir gegenüber. Er hatte mir die Blechbüchse gezeigt und gesagt, wenn ich etwas brauche, solle ich es mir einfach herausnehmen. Ich hatte geantwortet, das würde ich tun, würde aber einen Zettel mit dem Betrag und dem Verwendungszweck in die Büchse legen. Ehe ich den Satz zu Ende gesprochen hatte, war jedes Interesse an diesem Thema bei ihm erloschen.
Ich ärgerte mich, weil ich die Spieler nicht ernst genommen hatte. Sie waren Professionelle, die jeden Abend vier, fünf, sechs Stunden spielten, die ihre Miete damit verdienten, Alimente für ihre Kinder und Unterhalt für ihre Frau von dem Geld bezahlten, das sie Idioten wie mir abknöpften. Die Arroganz ihrer Kunden war Teil ihres Kapitals. Ich setzte mich tagsüber vor den Computer und lud mir aus dem Internet die Partien herunter, die ich vor vielen Jahren auswendig gelernt hatte, und spielte sie nach. Eine Woche lang saß ich acht Stunden pro Tag vor dem Brett und spielte gegen mich selbst. Ich nahm mir noch einmal Geld aus der Blechbüchse und besuchte noch einmal das Kaffeehaus im 3. Bezirk. Ich wollte wenigstens so viel Geld einspielen, um Sebastians Kasse in ihre alte Ordnung zu bringen.
Ich verlor alles.
Irgendwann war ich wieder im Café. Früher als sonst. Es war ein trockener, staubiger Tag im August. Ich hatte die Partie von Ruslan Ponomariov vs. Ivan Sokolov vom vergangenen Jahr vorbereitet und wollte meinen Gegner zwingen, dem Vorbild wenigstens bis zum neunten Zug, der kleinen Rochade von Weiß, zu folgen. Selbstverständlich würde er die Partie kennen. Ich aber, so mein Plan, würde auf die Rochade verzichten und stattdessen den Läufer auf g5 ziehen und damit den schwarzen Springer bedrohen, der die Dame abdeckte, was für meinen Gegner zwar keine unmittelbare Gefahr darstellte, ihn aber – vielleicht – irritierte, weil er dahinter einen raffinierten Plan befürchtete … Befürchtete er nicht, nach acht weiteren Zügen war ich matt. Mein Gegner rieb sich das glänzende Kinn, holte so tief Luft, dass die Brusttasche seines Hemdes sich über die Zigarettenpackung spannte, und grinste. Seine Maulspalte reichte bis zu den Ohren.
Ich geriet aus dem Konzept, wechselte zu einem anderen Sesshaften, verlor auch gegen ihn, wechselte zu einem dritten, verlor auch gegen ihn, zu einem vierten, verlor auch gegen ihn, sah ein, dass ich gar kein Konzept hatte, nie eines gehabt hatte, wechselte abermals den Gegner, verlor wieder, fuhr mit dem Rest des Geldes im Taxi nach Hause, griff ein zweites Mal an diesem Abend in die Blechbüchse und räumte sie diesmal leer. Um drei in der Nacht marschierte ich ohne einen Cent in der Tasche quer durch den 3. und den 4. Bezirk zur Heumühlgasse zurück.
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